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Opferlämmer

Opferlämmer

Titel: Opferlämmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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sich nicht sicher, warum. Aber er konnte sie einfach nicht abschütteln.
    Und was noch seltsamer war: Im Gegensatz zum Vortag, als
er sich zu dieser Zeit ein Wortgefecht mit Thom geliefert hatte, wollte er keinen Whisky. Schon die Vorstellung ließ ihn beinahe erschaudern.
    Das gab ihm mehr zu denken als die Kopfschmerzen.
    Sein Blick schweifte über die Tafeln, aber er nahm die Worte nicht wirklich wahr; so, als handle es sich um eine Fremdsprache, die er in der Schule gelernt, aber jahrelang nicht mehr benutzt hatte. Dann musterte er das Schaubild, mit dem Sachs den Stromfluss vom Kraftwerk bis in die Haushalte verdeutlicht hatte, bei stetig sinkender Voltzahl.
    Einhundertachtunddreißigtausend Volt …
    Rhyme bat Mel Cooper, er möge Sommers bei der Algonquin anrufen.
    »Sonderprojekte.«
    »Charlie Sommers?«
    »Am Apparat.«
    »Hier spricht Lincoln Rhyme. Ich arbeite mit Amelia Sachs zusammen.«
    »Oh, na klar. Sie hat Sie erwähnt.« Er hielt kurz inne. »Ich habe gehört, es war Ray Galt, einer unserer Leute«, sagte er dann leise. »Ist das wahr?«
    »Es sieht so aus. Mr. Sommers …«
    »He, nennen Sie mich Charlie. Dann fühle ich mich wie ein ehrenamtlicher Cop.«
    »Okay, Charlie. Verfolgen Sie, was gerade passiert?«
    »Ich habe das Netz vor mir auf dem Bildschirm meines Laptops. Andi Jessen – unsere Chefin – hat mich gebeten, alles zu überwachen.«
    »Wie lange dauert es noch, die – wie heißt das Ding? – Schaltanlage des Umspannwerks zu reparieren, in dem es gebrannt hat?«
    »Zwei, drei Stunden. Die Leitung lässt sich vorläufig nicht kontrollieren. Um sie abzuschalten, müssten wir halb New York
City vom Netz nehmen … Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
    »Ja. Ich muss mehr über Lichtbögen wissen. Wie es scheint, hat Galt sich an eine Hochspannungsleitung gehängt, das andere Ende des Kabels an ein Hauptwasserrohr angeschlossen und dann…«
    »Nein, nein. Das würde er nicht tun.«
    »Warum nicht?«
    »Das Rohr ist geerdet. Es würde sofort einen Kurzschluss geben. «
    Rhyme überlegte einen Moment. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. »Was wäre, wenn er bloß den Eindruck erwecken wollte, er habe die Hochspannungsleitung angezapft? Vielleicht hat er in Wahrheit eine kleinere Falle gebaut, irgendwo anders. Wie viel Spannung bräuchte man für einen Lichtbogen?«
    »Bei hundertdreißigtausend Volt hat das Ding eine mörderische Zerstörungskraft, aber es geht auch mit deutlich weniger Leistung. Dabei kommt es hauptsächlich darauf an, dass die Spannung höher ist als die Kapazität des betroffenen Kabels oder Anschlusses. Der Lichtbogen springt von dort entweder auf ein anderes Kabel über – von Phase zu Phase – oder zum Boden, von der Phase zur Erdung. Bei haushaltsüblicher Spannung, also hier in Amerika bei höchstens rund zweihundert Volt, gibt es einen Funken, aber keinen Lichtbogen. Ab etwa vierhundert Volt ist bereits ein kleiner Bogen möglich. Bei mehr als sechshundert ist er sehr wahrscheinlich. Aber eine ernst zu nehmende Größe wird erst bei Mittel- bis Hochspannung erreicht.«
    »Demnach wären tausend Volt genug?«
    »Unter den richtigen Umständen – ja, durchaus.«
    Rhyme starrte die Karte von Manhattan an und konzentrierte sich auf die Gegend, in der Sachs sich derzeit befand. Diese Neuigkeit vervielfachte die Zahl der möglichen Anschlagsorte.
    »Aber wieso interessiert Sie das?«, fragte Sommers.

    »Weil Galt in weniger als einer Stunde auf diese Weise jemanden töten wird«, erwiderte Rhyme geistesabwesend.
    »Oh, hat er in seinem Brief etwas von einem Lichtbogen geschrieben? «
    »Nein«, antwortete Rhyme, der sich dessen jetzt erst bewusst wurde.
    »Also ist das lediglich eine Annahme von Ihnen.«
    Rhyme hasste das Wort »Annahme« und all das, was sich daraus ableiten ließ. Er war wütend auf sich selbst und fragte sich, ob sie etwas Wichtiges übersehen hatten. »Bitte fahren Sie fort, Charlie.«
    »Ein Lichtbogen ist spektakulär, zählt aber auch zu den untauglichsten Möglichkeiten, Elektrizität als Waffe einzusetzen. Man kann ihn kaum kontrollieren und weiß nie mit Sicherheit, wo er einschlagen wird. Denken Sie nur an gestern Vormittag: Galt hatte einen ganzen Bus als Ziel und hat ihn nicht getroffen … Wollen Sie wissen, wie ich jemanden mit Strom umbringen würde?«
    »Ja, sehr gern«, sagte Lincoln Rhyme sofort und neigte seinen Kopf dem Telefon entgegen, um mit äußerster Konzentration zuzuhören.

… Vierunddreißig
    1883 errichtete

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