Opferschuld
irgendetwas anderes, was in diese Richtung wies? Abgesehen von Emmas Verhalten, als Sie sie befragten.»
«Die Art, wie Abigail über sie sprach, furchtbar herablassend. Als wäre Emma die dümmste Person, der sie je begegnet ist. Einmal, als ich da war, sagte sie zu ihrem Vater: ‹Emma hat ja wirklich
keine Ahnung
.› Wenn ich Emma gewesen wäre, ich hätte nicht schlecht Lust gehabt, sie umzubringen.»
«Hat Abigail sie tyrannisiert?»
«Das glaube ich nicht. Sie hat einfach so getan, als wäre sie ihre beste Freundin, und dabei hat sie sie völlig vereinnahmt. Und Emma ließ das mit sich geschehen. Sie ist zum Opfer geboren. Solche Menschen können gefährlich werden, wenn sie die Kontrolle über sich verlieren.»
«Es ist aber doch höchst unwahrscheinlich, dass Emma ihren Bruder um die Ecke gebracht hat.» Vera schien mit sich selbst zu sprechen. «Und wenn sie mich nicht darauf hingewiesen hätte, hätte ich nicht bemerkt, dass man von seinem Zimmer aus das Feld sehen kann.» Aber sie ist eine seltsame Frau, das stimmt. Voller Träumereien. Und wie passt ihr Mann da rein?
«Was wissen Sie über James Bennett?»
«Nichts. Als Abigail umgebracht wurde, hat er noch nicht hier gewohnt.»
«Hat Keith ihn nie erwähnt?»
«Warum sollte er?»
«Ich hatte den Eindruck, sie wären früher einmal befreundet gewesen. In alten Zeiten.»
«Oh, in alten Zeiten hatte Keith jede Menge Freunde. Mir hat er kaum einen davon vorgestellt.»
«Hat er Sie je gebeten, noch etwas anderes für ihn zu tun?»
«Was meinen Sie damit?»
Vera hieb mit der Faust auf den Tisch. Der Schlag hallte in dem leeren Zimmer wider. «Jetzt lassen Sie mal Ihre Spielchen, Gnädigste. Sie wissen ganz genau, was ich meine. Hat er Sie um Informationen gebeten? Ihnen gesagt, Sie sollen mal kurz wegschauen? Einfluss auf irgendwelche anderen Ermittlungen genommen?»
«Nur einmal.» Nach Veras theatralischer Geste kamen die Worte wie geflüstert. «Und es waren Informationen, die er wahrscheinlich auch so hätte bekommen können.»
«Nämlich?»
«Er wollte eine Kopie des Verzeichnisses der Sexualstraftäter sehen.»
«Was wollte er damit?»
Es entstand eine kurze Pause. «In Keiths Branche dreht sich alles um Einfluss. Er braucht Leute, die auf seiner Seite stehen. Mitglieder des Stadtrats. Städteplaner. Wahrscheinlich meinte er, dass er eine Spur mehr Einfluss ausüben könnte, wenn er etwas über die Leute wüsste, mit denen er arbeitete.»
«War er an irgendjemand Besonderem interessiert?»
«Kann sein. Er hat nie was gesagt.»
Erpressung, dachte Vera. Darauf war er also aus. Es lag demnach in der Familie. Sie ließ ihre Stimme gleichgültig klingen. «Und wann war das?»
«Kurz bevor Abigail umgebracht wurde.»
Kapitel zweiunddreißig
Vera hatte beschlossen, dass es an der Zeit war, mit James Bennett zu reden. Sie hätte noch einmal zu Keith Mantel fahren können, aber der würde kaum weitere Informationen herausrücken. Joe Ashworth hatte ein bisschen in der Vergangenheit gewühlt, aber er war nicht von hier, hatte nicht die nötigen Beziehungen, und sie verlor allmählich die Geduld. Als sie erfuhr, dass James bei der Arbeit war, nahm sie Ashworth mit, um den Lotsen an der Landspitze abzuholen. Sie hatte vor, ihn aufs Revier mitzunehmen. Auf diese Weise würden sie nicht abgelenkt. Sie sagte sich, dass es jede Menge Erklärungen für seinen Namenswechsel geben könnte, doch ihre Phantasie machte Überstunden: Bestimmt ist er in ein paar von Mantels illegalen Machenschaften verwickelt gewesen. Wieso sonst würde er sich hinter einem Alias verstecken wollen? Das machte ihn nicht zum Mörder, aber es machte ihn zu einem interessanten Gesprächspartner. Sie wollten nicht groß auffallen und blieben einfach neben dem Lotsenauto in ihrem Wagen sitzen, bis James erschien.
Als Vera ihn kommen sah, überfielen sie Zweifel. James war seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen und sah so abgespannt und grau aus, wie man nur aussieht, wenn man nachts aus dem Schlaf gerissen wird. Sie brauchte ihn konzentriert. So wie er jetzt wirkte, würde er im Verhörraum einnicken, den Kopf auf den Arm gelegt, kaum zu etwas nütze.
Er hatte sie schon gesehen, sodass sie nicht mehr wegfahren konnten. «Wir können es auf später verschieben», sagte sie. «Es ist nicht dringend.»
Aber James bestand darauf, jetzt gleich mitzukommen.
«Wollen Sie Ihrer Frau Bescheid sagen?»
«Ich bin früher fertig, als ich dachte. Sie wird mich erst in ein paar
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