Opferschuld
Stunden erwarten.»
Sie befanden sich in einem Raum ohne Tageslicht, eine Neonröhre flackerte, und es roch nach kaltem Zigarettenrauch. Vera und James saßen einander gegenüber an einem Tisch, und Joe Ashworth hatte seinen Stuhl ein Stück zurückgeschoben, sodass er wie ein unparteiischer Beobachter wirkte, wie ein Schiedsrichter bei einem Schachturnier vielleicht. Vera trug eins ihrer sackartigen Kleider und eine Strickjacke, die sie vorn schief zugeknöpft hatte. James, immer noch in seiner Uniform, sah tadellos aus.
«Das hier ist ein inoffizielles Gespräch», sagte Vera. «Bei einer solchen Ermittlung kommen alle möglichen Dinge ans Licht. Sie sind wahrscheinlich nicht wichtig, aber sie müssen geklärt werden. Das verstehen Sie sicher.»
Er nickte.
«Keith Mantel sagt, dass er Ihnen schon einmal begegnet ist. Damals hatten Sie allerdings einen anderen Namen. Dem mussten wir nachgehen.»
«Selbstverständlich.» Er klang sehr höflich, fast, als täte es ihm leid, dass sie seinetwegen in der Vergangenheit herumschnüffeln mussten.
«Ich hoffe, dass Sie das für uns aufklären können. Uns erklären, worum es dabei ging. Und gleichzeitig können Sie uns vielleicht noch ein bisschen was aus Keith Mantels Vergangenheit erzählen.»
Vera hatte nichts Bestimmtes erwartet – und nichts Besonderes. Vielleicht, dass er sie belehren würde, dass es völlig legal sei, seinen Namen zu ändern, und Rechtfertigungen nicht vonnöten seien. Dass sie das überhaupt nichts angehe. Gewiss aber nicht das. Denn James nestelte kurz an seiner Mütze herum, die umgedreht vor ihm auf dem Tisch lag, schloss die Augen für einen Moment derEntscheidung und fing dann an zu sprechen, um sie ganz an den Anfang zu führen und ihnen letztlich sein ganzes Leben zu erzählen.
«Als mein Dad jung war, hat er auf den Trawlern gearbeitet. Ich bin mit den Geschichten groß geworden – von den Stürmen und den legendären Kapitänen und den spektakulären Fängen –, aber als ich dann in die Schule kam, war er an Land gegangen. Vielleicht wogen die Gefahr und die Anstrengungen ja schwerer als das Abenteuer, schon damals musste man weit rausfahren, um was zu fangen. Es war kein leichtverdientes Geld. Aber ich glaube, es war wohl eher meine Mutter, die ihn überredete, den Fischfang aufzugeben. Es war bestimmt nicht angenehm für sie, wenn er auf See war.»
Vera nickte, schwieg, wartete darauf, dass er fortfuhr.
«Damals führten er und meine Mutter in der Gegend, wo sie beide aufgewachsen waren, einen Zeitungskiosk. Ich war ein Einzelkind, aber ich hatte Vettern, mit denen ich auf der Straße spielte, und meine Oma kochte mir was, wenn Mum und Dad zu viel zu tun hatten. Alles war freundlich und sicher. Natürlich gab es viel Klatsch und Tratsch. Ich nehme an, in kleinen Gemeinden gibt es immer böses Gerede. Aber mich hat das nie berührt. Meiner Erinnerung nach war es eine gute Zeit.
Als er noch zur See fuhr, war mein Vater aktives Gewerkschaftsmitglied, und auch danach interessierte er sich weiter für die Politik. Man hätte meinen können, er wäre ein geborener Konservativer, der kleine Geschäftsmann, der sich allein durchkämpft, aber so war’s nicht. Er war kein Kommunist, jedenfalls nicht so richtig, aber auf jeden Fall ein Sozialist der alten Schule. Mit einer Regierung der Neuen Mitte hätte er bestimmt nichts zu tun haben wollen. Jedenfalls war er schon immer in der Partei gewesen,und damals hatte er dann mehr Zeit, sich zu engagieren. Ich weiß noch, wie er bei Wahlkämpfen um Stimmen warb und wie er, wenn er nach Hause kam, immer noch mit den Diskussionen beschäftigt war, die er ausfocht, wenn er bei den Leuten klingeln ging. Keine Ahnung, was meine Mutter davon hielt. Wahrscheinlich war ihr klar, dass er etwas tun musste, weil er sich sonst gelangweilt hätte. Zu Beginn, glaube ich, betrachtete sie es als harmloses Hobby, wie Angeln oder Trainspotting.
Als ich die High School zur Hälfte hinter mir hatte, überredeten sie ihn, für den Gemeinderat zu kandidieren. Das heißt, es brauchte gar nicht viel Überredung. Die Ehe meiner Eltern war damals schwer am Kriseln. Für mich wahrten sie die Form und machten gute Miene, aber es war wie gesagt eine kleine Gemeinde, und die Leute verbreiteten nur zu gern ihren Klatsch. Ich erfuhr, dass er eine Menge Affären hatte. Schließlich entschied er sich offenbar für eine andere Frau, auch Mitglied der Partei, eine Lehrerin. Wie ich hörte, waren sie unzertrennlich. Ich war
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