Opferschuld
Leib bleiben. Aber das konnte ich nicht.»
Vera wusste nicht, was sie erwidern sollte. Mantel hatte die Geduld verloren. Deswegen hatte er ihr von seiner Beziehung zu Caroline erzählt. Sie war ihm lästig geworden, und nun sollte die Polizei die Schmutzarbeit für ihn erledigen. Vera brachte es nicht über sich, der Frau das unter die Nase zu reiben. Sie stellte die erstbeste Frage, die ihr einfiel. «Sind Sie Abigail jemals begegnet?»
«Öfter, ja.»
«Und wie fanden Sie sie?»
«Ganz ehrlich? Ich glaube, ich war eifersüchtig auf sie. Keith war vernarrt in sie. Ich habe versucht, Freundschaft mit ihr zu schließen, weil ich wusste, dass er das wollte, aber sie hat mich nie gemocht. Wahrscheinlich wusste sie, worauf ich wirklich aus war. Sie war ein schlaues kleines Ding. Ich fand es schade, denn ich dachte, dass wir eine Menge gemein hätten. Vielleicht litten wir ja beide unter einem Zwang, auf jeden Fall war sie auch einsam. Wenn sie auf meiner Seite gewesen wäre, wäre vielleicht alles anders gekommen. Ich meine, ganz anders.»
«Hochzeit? Familie? Ein weißes Kleid wie aus Baiser und ein eigenes Kind?»
«Ja», sagte sie abwehrend. «Wieso denn nicht? Andere Leute haben das doch auch.»
«Mag sein», sagte Vera. «Aber wir sind nicht andere Leute, Herzchen, oder?»
Sie blickten einander über den wackligen Tisch hinweg an.
«Wer hat sie umgebracht, was glauben Sie?», fragte Vera, plötzlich ganz sachlich. «Wir wissen, dass Jeanie Long es nicht war, wer war’s also dann?»
«Ich habe wirklich geglaubt, dass sie es war. Vielleicht habe ich es mir etwas zu einfach gemacht und manches versäumt, aber bestimmt nicht, weil ich sie aus dem Weg haben wollte.» Sie sah zu Vera hoch und sagte noch einmal, mit mehr Nachdruck: «Ich habe wirklich geglaubt, dass sie es war.»
Das konnte Vera unmöglich so stehenlassen. «Und Keith hat es auch geglaubt. Zweifellos war er sehr zufrieden, dass sich alles so schnell geklärt hat. Und dankbar, nicht wahr? Ich wette, er war dankbar. Aber nicht dankbar genug, um Sie zu heiraten. War es das, was er Ihnen versprochen hatte?»
«Etwas in der Art.»
«Wo waren eigentlich Sie an dem Nachmittag, als sie ums Leben kam? Darüber haben Sie bestimmt schon nachgedacht. Sie wussten doch, dass ich das fragen würde.»
«Ich war allein», sagte sie. «In meiner Wohnung in der Stadt. Es war mein freier Tag.» Sie schwieg kurz. «Ich habe mir die Augen ausgeheult, weil ich eigentlich mit Keith verabredet war, und dann rief er in letzter Minute an und sagte ab. Abigail wolle ihm was Schönes kochen, also müsse er zu Hause bleiben. Das hat mich so fertiggemacht, dassich dann doch zur Arbeit gegangen bin. Deswegen war ich auch da, als der Anruf kam.»
«War Keith denn zu Hause, als sie gefunden wurde?» Noch mehr Salz in die Wunde streuen. Vera war nicht stolz darauf.
«Nein. Am Ende haben sie ihn in seinem Büro aufgestöbert. Irgendwas Dringendes, das im letzten Augenblick hochgekocht war. Hat er behauptet. Wie ich schon sagte, Abigail und ich hatten eine Menge gemein. Sie hat er auch hängenlassen.»
«Sie haben mir noch nicht gesagt, wer sie Ihrer Meinung nach umgebracht hat, jetzt, wo Sie wissen, dass Jeanie es nicht war.»
«Sie werden mich für verrückt halten …»
«Raus damit.»
«Das Mädchen, das sie gefunden hat, Emma Winter …»
«Verheiratete Emma Bennett.»
«Irgendwie war sie komisch, als ich das erste Mal da war, um sie zu befragen. Richtig merkwürdig. Ich dachte, das wäre der Schock. So über seine beste Freundin zu stolpern, ich meine, da erwartet man doch, dass sie sich seltsam benimmt. Aber es wirkte so, als wäre nichts davon wirklich wahr. Als würde sie eine Geschichte erzählen, die sie sich ausgedacht hat, die sie irgendwie einstudiert hat, aber wie konnte das sein? Wir waren an jenem Nachmittag doch gleich da.»
Vera blieb einen Augenblick lang still und ließ das auf sich wirken. «Könnte sie es denn getan haben? Hätte es von der Zeit her gepasst?»
«Der Gerichtsmediziner hat gesagt, dass Abigail noch nicht lange tot gewesen sein kann, als Emma sie fand. Sie wissen ja, dass die bei so was keine präzisen Angaben machen können. Ich würde sagen, es ist durchaus möglich,dass sie sich auf dem Pfad getroffen haben, in Streit geraten sind und Emma sie dann umgebracht hat. Ich behaupte nicht, dass es tatsächlich so passiert ist. Aber Sie haben mich gedrängt, meine Meinung zu sagen.»
«Ja, das habe ich wohl. Gab es noch
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