Opferschuld
Ofen und schob sie auf die Herdplatte. Das Essen begann zu brodeln. Mary war vor Hitze und Anstrengung ganz rot im Gesicht. Sie hatte ihr dünnes graues Haar nach hinten gebunden, und Emma dachte, sie sollte es sich schneiden lassen, vielleicht sogar färben. Bei einer Frau in Marys Alter sah ein Pferdeschwanz einfach lächerlich aus. Mary legte ein Geschirrtuch um den Deckel der Kasserolle und hob ihn ab, um den Inhalt umzurühren. Es roch nach Lamm und Knoblauch und Tomaten, und mit einem Mal war Emma sich sicher, dass sie genau dieses Gericht an dem Tag gegessen hatten, an dem Abigail ermordet wurde. Unvermittelt sah sie zu ihrer Mutter hinüber, erwartete, dass auch sie sich erinnerte, aber Mary lächelte nur, erleichtert, dass der Herd heiß genug geblieben und das Fleisch gut geschmort war, und Emma kam sich töricht vor. Sie fragte sich, ob ihr Verstand ihr wohl Streiche spielte. Ihre Phantasien wirkten immer so echt.
Zu dieser Jahreszeit aßen sie in der Küche. Im Esszimmer gab es keinen Kamin, und obwohl das Haus Nachtspeicheröfen besaß, waren die morgens gerade mal lauwarm und bis zum Abend wieder kalt. Emma deckte den Tisch, glittzurück in die familiäre Routine, ihre Hände fanden das Besteck und die Gläser wie von selbst. Es war, als ob sie nie weg gewesen wäre. Dabei hatte sie doch, genau wie Jeanie Long, jahrelang studiert. Hätte sie James nicht kennengelernt und geheiratet, wäre sie wohl nie wieder hierher zurückgekommen. Ob das insgeheim der Grund dafür war, dass sie so viel an ihm auszusetzen hatte?
Robert war schließlich doch nach oben gegangen, um sich umzuziehen, und kam in Jeans und einem dicken marineblauen Pulli zurück. James machte einen Rotwein auf. Sie setzten sich und warteten darauf, dass Robert das Tischgebet sprach, wie er es immer tat, auch wenn nur er selbst und Mary am Tisch saßen. Doch er schien sich gar nicht darüber im Klaren zu sein, was sie von ihm erwarteten, nahm die Schöpfkelle und fing an, sich aufzutun. Emma schaute ihre Mutter an, die bloß den Kopf schüttelte, ihm wieder einmal alles nachsah und eine Schüssel Kartoffeln herumreichte.
Nach dem sonntäglichen Mittagessen überließ Mary den Abwasch immer den anderen. Robert entzündete dann die Holzscheite, die er im Kamin im Wohnzimmer bereits aufgetürmt hatte, und sie setzte sich hin, trank ihren Kaffee und las die Sonntagszeitung, bis die anderen kamen und sich zu ihr gesellten. Dann war das Zimmer beinahe warm. Sie war froh, ein wenig Zeit für sich zu haben, und vergaß nie, ihnen zu danken.
Robert und Emma waren allein in der Küche. James hatte den Kleinen mit nach oben genommen, um die Windeln zu wechseln.
«Wer war der Mann, der dich angespuckt hat?»
Er antwortete, ohne sich vom Spülbecken wegzudrehen.
«Michael Long, Jeanies Vater.»
Dann hat er sich verändert, dachte sie. Der Michael Long, an den sie sich erinnerte, war kräftig gewesen, breitschultrig, laut.
«Warum hat er das gemacht?»
«Wenn so etwas passiert, brauchen die Menschen oft jemanden, dem sie die Schuld geben können.»
«Aber warum dir?»
«Ich habe einen Bericht für den Bewährungsausschuss geschrieben. Ich konnte ihre Entlassung auf Bewährung nicht befürworten.»
«Jeanie Long war einer deiner Schützlinge?»
Jetzt drehte er sich doch um. Langsam trocknete er sich die Hände an dem fadenscheinigen Handtuch ab, das am Herd hing, dann setzte er sich zu ihr an den Tisch.
«Erst im letzten Jahr.»
«War denn keiner der Ansicht, dass das falsch ist? Dass man es für eine Art von … ich weiß nicht, Interessenkonflikt halten könnte?»
«Natürlich haben wir darüber gesprochen, ob es angemessen ist, dass ich den Fall übernehme, aber da ging es nicht um einen Interessenkonflikt. Du bist ja nie als Zeugin der Anklage aufgetreten. Es ging darum, ob ich in der Lage wäre, Jeanies Vertrauen zu gewinnen, mich fair und unvoreingenommen um sie zu kümmern, und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass ich das kann. Die Frage nach ihrer Schuld oder Unschuld kam gar nicht auf – oder nicht zu dem Zeitpunkt. Darüber war damals im Prozess entschieden worden und später, bei der Berufungsverhandlung. Ich kannte Jeanie nicht, bevor sie verurteilt wurde. Und Abigail kannte ich auch nicht, obwohl ihr zwei miteinander befreundet wart.»
Sie nahm an, dass er wohl recht hatte. Zwischen ihremUmzug nach Elvet und Abigails Tod war nur ein halbes Jahr vergangen. Zu jener Zeit war Springhead House noch unwirtlicher gewesen
Weitere Kostenlose Bücher