Opferschuld
als heute. Das ältere Paar, das vor ihnen dort gelebt hatte, hatte nur zwei Zimmer bewohnt, der Rest des Hauses war voller Müll gewesen. Es hatte Ärger mit den Wasserleitungen gegeben, unangenehme Gerüche und plötzliche Stromausfälle. An einen solchen Ort wollte man eine neue Freundin bestimmt nicht einladen. All die gemeinsamen Übernachtungen, die durchgealberten Nächte mit Videofilmen, Schokoladenkuchen und Wein, den sie noch gar nicht trinken durften, hatten im Haus der Mantels stattgefunden. Mary hatte Abigail ein paarmal gesehen, bei Schulveranstaltungen oder wenn sie Emma bei der Alten Kapelle absetzte. Robert aber, der in seiner ersten Anstellung als Bewährungshelfer unbedingt einen guten Eindruck machen wollte, hatte bis spätabends gearbeitet und war selten da gewesen.
«Stimmt es, dass der Fall wiederaufgenommen werden sollte?»
«Ich vermute, das soll er immer noch. Wenn Jeanie unschuldig war, muss jemand anders Abigail Mantel umgebracht haben.»
Einen Augenblick lang saßen sie nur da und sahen sich an. Emma dachte, dass dies wohl der Tag der ungewöhnlichen Gespräche war. Noch nie hatte ihr Vater so sachlich und offen mit ihr geredet. Mittlerweile war es draußen fast dunkel. Der Wind blies durch die Ritzen im Fensterrahmen und bewegte die schwere Gardine, die davorhing. Von oben hörte sie das Baby glucksen.
«Glaubst du denn, dass sie unschuldig war?»
«Das zu beurteilen steht mir nicht zu. Ich werde vom Gericht beauftragt und muss dessen Entscheidungen akzeptieren. Sie hat immer behauptet, unschuldig zu sein,aber das machen viele Straftäter, mit denen ich zu tun habe.»
«Wie war sie eigentlich?»
Erneut zögerte er. Sie erkannte ihn fast nicht wieder, für ihn war doch immer alles so eindeutig gewesen.
«Sie war sehr still, intelligent …» Wieder brach er ab, stotterte beinah. «Vor allem war sie sehr wütend, der wütendste Mensch, dem ich je begegnet bin. Sie fühlte sich verraten.»
«Von wem fühlte sie sich verraten?»
«Von ihren Eltern, glaube ich. Zumindest von ihrem Vater. Vor allem aber von Keith Mantel. Sie konnte nicht verstehen, dass er sie nie besucht hat. Selbst als er sie damals gebeten hatte auszuziehen, hat sie immer noch geglaubt, dass er sie liebt.»
«Aber sie hat seine Tochter umgebracht! Was hat sie denn erwartet?»
«Er hat das jedenfalls geglaubt. Und das war Jeanie zufolge der schlimmste Verrat überhaupt. Dass er sie tatsächlich für fähig hielt, einen Mord zu begehen.»
«Warum hast du ihre Bewährung nicht befürwortet?»
Emma erwartete nicht, dass er ihr das erzählen würde. Er sprach nie über die Einzelheiten seiner Arbeit. Das sei vertraulich, sagte er immer, er habe dieselbe Schweigepflicht wie ein Pfarrer. Doch heute schien er unbedingt reden zu wollen. Es war, als müsste er seine Entscheidung ihr gegenüber rechtfertigen.
«Es hatte schon mit ihrer Wut zu tun. Ich war mir nicht sicher, dass sie die unter Kontrolle bekommt. Im Prozess hat die Anklage behauptet, sie hätte Abigail in einem Anfall von Wut und Eifersucht erwürgt. Ich hatte Bedenken, dass sie erneut die Kontrolle verliert und auf jemanden losgeht, der ihr wehgetan hat. Vielleicht wäre es etwasanderes gewesen, wenn sie mehr Bereitschaft gezeigt hätte mitzuarbeiten. Ich lud sie ein, an einem der Kurse zur Wutbewältigung teilzunehmen, die wir in Spinney Fen anbieten, aber sie wollte nicht. Sie sagte, wenn sie daran teilnimmt, wäre das wie ein Schuldeingeständnis. Als würde sie eingestehen, dass sie ihr Verhalten ändern müsste.»
James tauchte mit Matthew auf dem Arm in der Tür auf. Ihre Blicke trafen sich. «Kannst du uns noch für ein paar Minuten entschuldigen?», fragte sie. Er war überrascht. Normalerweise hatte sie keinen Bedarf, mit ihrer Familie allein zu sein, doch er zog sich wieder zurück.
Robert war immer noch in Gedanken versunken und hatte die Unterbrechung offenbar gar nicht bemerkt. «Und dann gab es noch den Bericht über die häuslichen Umstände», fuhr er fort. «Ich war bei Michael Long, um mit ihm darüber zu reden. Jeanies Mutter hat sie immer im Gefängnis besucht, aber Michael kam nie. Nachdem Mrs Long tot war, bekam Jeanie überhaupt keinen Besuch mehr. Ich musste herausfinden, ob es möglich war, dass sie sich miteinander versöhnten. Wenn Michael einverstanden gewesen wäre, dass sie nach ihrer Entlassung bei ihm wohnt, und sei es nur für ein paar Wochen, hätte der Ausschuss vielleicht anders entschieden.»
«Aber er wollte
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