Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
Vom Netzwerk:
er, würde sie sich über die Störung ärgern. Es hat auch sein Gutes, wenn man in Trauer ist. Die Leute meinen, sie müssten freundlich zu einem sein.
    «Bitte entschuldigen Sie», sagte sie. «Ich war in der Wanne.»
    Sie war barfuß, und er konnte nicht aufhören, ihre Füße anzustarren und die glatte Haut ihrer Beine, die in dem Frotteemantel verschwanden. Er stellte sich vor, wie sie in der Badewanne lag und sich die Beine rasierte. Auf den Zehennägeln trug sie silbernen Nagellack. Wer konnte daszu dieser Jahreszeit sehen? Es war nicht gerade das Wetter für Sandalen.
    «Kann ich Ihnen helfen, Michael?», fragte sie und versuchte, ihre Stimme nicht ungeduldig klingen zu lassen. Ihm wurde klar, dass sie auf eine Erklärung wartete, weshalb er hier war.
    «Vielleicht komme ich besser herein. Sie holen sich noch den Tod, wenn Sie weiter in der offenen Tür stehen.»
    Sie nickte, fügte sich ins Unvermeidliche. «Dann warten Sie doch kurz. Ich ziehe mir nur schnell was an.»
    Sie führte ihn in die Küche und ließ ihn dort stehen. Zu Pegs Zeiten hätte er sich die Schuhe ausgezogen, bevor er eingetreten wäre, aber heute schien das kaum nötig zu sein. Er hätte die Küche nicht wiedererkannt. Er ahnte, dass sich unter der ganzen Unordnung nicht viel geändert hatte. Es waren bestimmt noch die gleichen Schränke und Bänke, die Peg sich damals ausgesucht hatte. Doch alles lag voller Zeug. Aus einem Korb quoll die schmutzige Wäsche, Schuhe und Stiefel waren auf einen Haufen geworfen, dreckige Töpfe standen herum, auf einem lila Plastikteller vertrocknete Katzenfutter. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, und versuchte, Entrüstung darüber aufzubringen, sagte sich, dass Peg Zustände bekommen würde, wenn sie das sehen könnte, dann aber dachte er, dass es im Grunde nicht wichtig war. Als Wendy wieder hereinkam, in einer Trainingshose und einem Top, an den Füßen Hausschuhe, die zu groß für sie waren, räumte sie ein paar Kleider von einem Stuhl und setzte sich.
    «Also, Michael, was kann ich für Sie tun?» Nicht unfreundlich, aber kurz angebunden, um ihm klarzumachen, dass sie ihm nicht viel Zeit widmen konnte. Sie bot ihm auch keinen Tee an, und nach dem Fußmarsch war er am Verdursten.
    Er war sich nicht sicher, wie er anfangen sollte. Auf dem Weg hierher hätte er darüber nachdenken sollen, wie er es am besten anpacken würde. Er hätte nicht in die guten alten Zeiten abschweifen dürfen.
    «Es geht um James», sagte er. «James Bennett. Wie gut kennen Sie ihn?»
    «Wieso, tratschen die Leute?» Sie verengte die Augen, schien sich in ihren Stuhl hineinzuducken wie eine Katze, die zum Sprung bereit war.
    «Nein. Nicht so was.»
    «Sie wissen doch, wie das ist. Wenn eine Frau mit lauter Männern arbeitet, denken sich die Leute alles Mögliche aus.»
    «Nein», sagte er. «Ich dachte bloß, er hätte vielleicht mit Ihnen gesprochen, das ist alles.»
    «Worüber denn?»
    «Über seine Kindheit, wo er aufgewachsen ist. So was.»
    «Wieso wollen Sie das denn wissen?»
    Er spürte, wie die Küche sich um ihn drehte, während er verzweifelt nach einer Erklärung suchte, die sie zufriedenstellen würde. «Ich dachte, ich hätte ihn gekannt, als er noch ein Junge war.»
    «Aha.»
    Wieder dieser panische Strudel. «War er auf der Trinity House School?»
    «Nein, war er nicht.»
    «Aber er ist doch von hier?»
    «Ich glaube nicht, dass er je was darüber gesagt hat. Er ist keiner, der viel redet. Er erzählt nicht viel von sich   … Michael, worum geht’s hier überhaupt?»
    «Wie gesagt, ich dachte, ich kenne ihn. Bin auf ein altes Foto gestoßen. Das ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber damals hat er sich nicht Bennett genannt. Shaw,so hieß er. Ich habe mich gefragt, ob er vielleicht mit Ihnen darüber geredet hat.» Er merkte, dass er nuschelte. Sie sah ihn an, als wäre er ein verrückter Alter, der Obhut der Gemeinschaft überlassen, der zeternd vor sich hin brabbelt, während er die Straße entlanggeht. Er fragte sich, ob er so enden würde, wie an dem Tag, an dem er auf dem Friedhof mit Peg gesprochen hatte. Vielleicht war er ja auch schon so.
    «Warum sollte er seinen Namen ändern?» Was Wendy sagte, klang vernünftig. «Sie müssen sich geirrt haben. Bei einem alten Foto kann man das doch nie so genau wissen. Warum fragen Sie ihn nicht einfach selbst, wenn es Ihnen solches Kopfzerbrechen bereitet?»
    «Er muss doch was über seine Familie erzählt haben, darüber, was er vor dem

Weitere Kostenlose Bücher