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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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anstellte, einen zu beantragen. Sie stiegen alle vor der Kirche aus, und Michael blieb noch einen Augenblick stehen, bis die Frauen weggegangen waren.
    Er schaute über die Straße zum Captain’s House und konnte erkennen, dass im Wohnzimmer ein Kaminfeuer brannte. Emma Bennett kam heraus und schloss die Tür hinter sich. Sie blieb kurz stehen und ging dann die Straße hinauf. In ihrem langen schwarzen Mantel sah sie sehr chic aus, und er fragte sich, wo sie wohl hinging. Das Baby hatte sie nicht dabei, also musste James zu Hause sein. Es wäre verlockend, einfach an die Tür zu klopfen und ihn mit den Fragen zu konfrontieren, die Michael sich stellte. Allein um sie aus dem Kopf zu kriegen. Aber James hatte ihn schon immer eingeschüchtert, auch als sie noch zusammengearbeitet hatten. Also war das nicht der richtige Weg. Den Bungalow konnte Michael jetzt nicht ertragen, und er machte sich auf den Weg aus dem Dorf hinaus, in Richtung Meer.
    Als er noch mit Peg auf der Landspitze gewohnt hatte, war er an manchen Abenden vom
Anchor
zu Fuß nach Hause gegangen. Nicht weil er zu viel getrunken hatte. Damals ließ sich ja nur alle Jubeljahre mal ein Polizist in Elvet blicken, anders als heute. Seit dem letzten Mord war jeder Zweite, den man sah, ein Fremder, und man erkannte die Polizisten sofort, auch wenn sie Zivil trugen. Nein, damals war er zu Fuß gegangen, weil es ihm Freude gemacht hatte. Ein schöner Abend und der Bauch voll Bier, dann der Spaziergang die Landspitze hinunter, mit dem Fluss auf der einen Seite und dem Meer auf der anderen, in dem Wissen, dass Peg in dem großen, weichen Bett auf ihn wartete. Nurder mit Sternen übersäte Himmel und die Vorfreude. So war es damals doch gewesen, oder nicht? Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass seine Erinnerung ihm vielleicht einen Streich spielte.
    Er war zu Fuß losgegangen, weil er sich von der Bewegung Erleichterung erhofft hatte, doch der Weg war länger und beschwerlicher, als er ihn in Erinnerung hatte, und von Süden her blies ihm eine steife Brise ins Gesicht. Aber das half ihm auch, klarer zu denken, und auf einmal wusste er, was er jetzt tun sollte. Er würde mit Wendy sprechen, der Steuerfrau auf dem Lotsenboot. Sie war von Anfang an gut Freund mit James Bennett gewesen, noch bevor er die Zulassung für den Humber bekommen hatte, bevor er nach Elvet gezogen war. Bevor er geheiratet hatte. Michael hatte sogar gemutmaßt, dass zwischen den beiden mehr war als nur Freundschaft, aber das hatte er nicht mehr herausfinden können. Er hatte nur ein paar Wochen lang mit Wendy gearbeitet, in der Zeit der Übergabe, ehe er in Ruhestand ging. Wenn James Bennett, der sonst immer so steif und reserviert war, irgendjemandem etwas über seine Vergangenheit anvertraut hätte, dann wäre es Wendy.
    Als er die Lotsenstation erreichte, war es schon später Nachmittag, und das Licht war am Schwinden. Stan, der Zweite Steuermann, hatte Bereitschaft. Er saß am Schreibtisch, die Füße ausgestreckt, las Zeitung und trank Tee. Als Michael hereinkam, hätte man meinen können, Stan hätte ein Gespenst gesehen. «Mensch, alter Knabe, was machst du denn hier?»
    Es war schon viele Jahre her, dass ihn jemand «alter Knabe» genannt hatte.
    «Habe mir nur ein wenig die Beine vertreten», sagte Michael. «Wie ich sehe, hast du jede Menge zu tun.»
    «Noch eine halbe Stunde, dann fahre ich raus und hole einen Lotsen.»
    «Wen denn?»
    «Einen Neuen, heißt Evans. Du wirst ihn nicht kennen.»
    «Weißt du, ob Wendy da ist?»
    «Sie hat heute frei. Sie wird im Cottage sein, wenn sie sich nicht irgendwo rumtreibt.»
    «Treibt sie sich denn oft rum zurzeit?»
    «Mehr als früher. Ich glaube, es gibt einen neuen Mann in ihrem Leben, aber sie verrät nichts.»
    Michael ging wieder nach draußen, bevor Stan fragen konnte, was er hier wollte. Der massige graue Rumpf eines Schiffes schob sich den Fluss herauf und näherte sich der Mündung. Es hatte angefangen zu tröpfeln.
    Es fühlte sich merkwürdig an, an der Tür des Cottage zu klopfen, in dem er so viele Jahre ein und aus gegangen war. Oben brannte Licht, und man hörte Musik, also musste sie da sein. Er klopfte noch einmal, lauter. Schließlich regte sich etwas im Haus, Wasser lief durch ein Abflussrohr, jemand polterte die Treppe herunter, und sie machte ihm die Tür auf. Sie hatte einen Bademantel an, und ihre Haare waren in ein Handtuch gewickelt. Sie erkannte ihn sofort und war überrascht. Wenn ich jemand anders wäre, dachte

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