Opferschuld
sie nichts. Emma war oben und brachte Matthew ins Bettchen, für den Mittagsschlaf. Wenig später hörte er sie herunterkommen. Er dachte, sie würde zu ihren Eltern gehen, doch stattdessen kam sie in die Küche. Sie stellte sich hinter ihn und küsste ihn auf den Nacken.
«Danke, dass du so nett zu ihnen bist.»
Sie huschte davon, bevor er antworten konnte, und er hörte ihre Stimme, nicht lauter als ein Murmeln, im Nebenzimmer.
Genau das bin ich, sagte er sich. Ein netter Mann, dersich um seine Familie kümmert. Vielleicht sogar ein guter Mann. All das ist keine Lüge.
Am Esstisch fand Robert wieder mehr zu sich selbst, er lebte auf, sprach das Tischgebet und lobte James für dessen Kochkünste. Er trank mehr als sonst, und James fühlte sich daran erinnert, wie Christopher das letzte Mal hier im Haus gegessen hatte. Er hatte immer gedacht, dass Vater und Sohn nicht viel miteinander gemein hätten, doch jetzt konnte er eine Ähnlichkeit feststellen. Einen tragischen Charakterzug. Die Neigung zur Maßlosigkeit.
«Warum bleibt ihr nicht über Nacht?», fragte Emma. Mary fuhr nicht gern mit Roberts Wagen, und James sah Emma an, dass sie meinte, ihr Vater habe schon zu viel getrunken. «Ihr könnt doch morgen früh zurückfahren.»
«Nein», sagte Robert. «Ich muss nach Hause. Ich möchte morgen zur Arbeit gehen.»
«Ist das denn klug?» James hatte Roberts Entscheidungen noch nie zuvor in Zweifel gezogen und kam sich ziemlich mutig vor. «Ich bin mir sicher, dass sie es verstehen, wenn du noch etwas Zeit brauchst. Du könntest mindestens bis Weihnachten freihaben. Für die paar Wochen wieder hinzugehen lohnt doch kaum.»
«Ich würde aber lieber arbeiten gehen. Zu Hause grübele ich zu viel vor mich hin.» Trotzdem griff Robert zur Weinflasche und füllte sein Glas nach.
«Und außerdem», sagte Mary plötzlich, «wenn ich heute nicht wieder nach Hause gehe, werde ich es nie mehr können.» Sie sah, dass alle furchtbar erschrocken waren. «Ich weiß, dass das töricht ist, aber so empfinde ich es nun einmal. Ich könnte nie wieder durch die Tür treten.»
«Dann bringe ich euch heute Abend nach Hause», sagte James. «Erst mal bleibt ihr noch eine Weile hier, ruht euch aus, trinkt noch etwas. Und morgen früh hole ichals Erstes Robert ab, und er kann sein Auto wieder mitnehmen.»
Emma lächelte ihm zu und strich mit den Fingerspitzen über seinen Handrücken.
Später lief im Fernsehen ein alter Film. Im Zimmer war es heiß. Robert und Mary schliefen beide ein. Marys Mund stand ein Stück weit offen, und sie schnarchte von Zeit zu Zeit. Matthew lag bäuchlings auf dem Teppich, umgeben von Spielsachen.
«Ich glaube, der Arzt hat ihnen was zur Beruhigung gegeben», sagte Emma. «Sie wirken ein bisschen weggetreten, findest du nicht? Vor allem Dad. Aber wenigstens auch etwas entspannter.»
Als die beiden aufwachten, machte sie Tee, und James toastete vor dem Feuer Crumpets auf. Er hockte vor dem Kamin und streckte den Arm lang aus, weil die Glut noch so heiß war.
«Was zum Naschen», sagte Emma. Sie sah zu, wie Mary einen Bissen hinunterschluckte und sich dann die Butter von den Fingern leckte. Jetzt sieht Emma genauso aus wie neulich, dachte James, als sie Matthew zum ersten Mal dazu gebracht hat, einen Löffel Brei zu essen.
«Wir sollten uns auf den Weg machen.» Robert erhob sich. Das Teetablett stand noch am Boden, die Gabel zum Auftoasten lag auf dem Kamin. «Bist du so weit, Liebling?»
Draußen, auf der anderen Straßenseite, wartete jemand im Bushäuschen.
«Da wird er aber noch lange stehen», sagte James in der Hoffnung, die Stimmung aufzuheitern. «Am Sonntag fahren keine Busse. Meint ihr, ich sollte ihm das sagen?»
Der Mann drehte sich um und starrte sie an, obwohl er nicht verstanden haben konnte, was James gesagt hatte. Der orange Schein einer Straßenlaterne fiel über sein Gesicht.
«Das ist ja Michael Long», sagte Robert. James hatte ihn im gleichen Moment erkannt. «Vielleicht sollten wir ihn besser in Ruhe lassen.»
Bei Springhead House angekommen, ging James mit ihnen hinein. Er hatte das Haus schon immer gemocht, trotz seiner Macken und Unannehmlichkeiten. Hier war Emma aufgewachsen, und überall gab es Erinnerungen an sie. Schulfotos, Bücher, in denen ihr Name stand, ihre Gummistiefel gleich hinter der Tür. Doch jetzt, als er betreten in der Küche wartete, während Robert und Mary an den Lampen herumfummelten, fragte er sich, wie die beiden die düstere Wandfarbe ertragen
Weitere Kostenlose Bücher