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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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Lotsendienst gemacht hat. Sie wissen doch, wie man ins Reden kommt, wenn man auf ein Schiff wartet.»
    «James redet nicht viel», sagte sie. «Er ist immer nett und höflich, aber er legt Wert auf seine Privatsphäre. Genau wie ich.» Sie stand auf, und er merkte, dass er nun gehen musste.
    «Es tut mir leid, wenn ich Sie belästigt habe. Sie haben recht. Ich muss mich geirrt haben. Bitte entschuldigen Sie. Ich bin momentan nicht ganz bei mir.»
    Da empfand sie wieder Mitleid mit ihm. «Wie sind Sie eigentlich hierhergekommen? Wenn Sie kurz warten, bringe ich Sie zurück ins Dorf.»
    «Nein, ich will Ihnen keine Mühe machen. Stan hat gesagt, dass er einen Lotsen holt. Mit dem fahre ich dann zurück.»
    Sie standen verlegen im Flur. Wendy trat beiseite, um ihn hinauszulassen. In dem Moment hörte man von oben ein Geräusch, ein leises Knarren. Schon zu seiner Zeit wareine der Dielen im Schlafzimmer lose gewesen. Sie sah, dass er es gehört hatte.
    «Das muss die Katze sein», sagte sie.
    «Aye.» Obwohl er wusste, dass es keine Katze gewesen war. Es war nicht nur das Geräusch von oben, das von mehr Gewicht zeugte, als selbst die schwerste Katze aufbringen konnte. Es war die Art, wie sie geschaut hatte – so, als hätte sie etwas zu verbergen, und gleichzeitig aufgeregt, wie bei einem geheimen Spiel. Nachdem sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, blieb er in dem kleinen Garten stehen und blickte nach oben, wo das Licht gebrannt hatte, doch nun waren die Vorhänge zugezogen, und er konnte rein gar nichts sehen. Das Auto, das hinter dem Cottage parkte, erkannte er als Wendys Wagen.
    Das Lotsenboot war noch draußen, und er wartete neben der Station, bis es zum Anlegesteg zurückkam. Er hatte das Gefühl, nicht einfach hineingehen zu können. Das Boot bewegte sich langsam durch die Dunkelheit, und er verspürte einen nostalgischen Stich, den er eigentlich im Haus erwartet hätte. Später sah er mit Stan auf den Fluss hinaus, während der Lotse bei der Leitstelle anrief.
    «Mit wem hat sich Wendy da eingelassen? Mensch, du wohnst direkt neben ihr. Du wirst ihn doch mal gesehen haben.»
    «Nicht ein Mal. Das muss der Große Unsichtbare sein.»
    «Und was sagen die Leute? Ich weiß doch, wie der Klatsch hier die Runde macht.»
    «Eins liegt auf der Hand.» Stan tippte sich mit dem Finger an den Nasenflügel. «Er ist verheiratet. Warum sonst sollte sie ihn geheim halten?»

Kapitel neununddreißig
    Sie saßen in der Kirche, auf ihren gewohnten Plätzen. Mary und Robert, Emma mit dem Baby auf dem Schoß und James. Zu Marys Füßen stand die riesige Handtasche, die Emma verabscheute und die immer voll unnützem Krempel war. Ein Sonnenstrahl fiel durchs Fenster, färbte den Staub bunt, den der Luftzug von der Tür aufgewirbelt hatte, und malte Tupfen auf das Chorhemd des Pfarrers, der das Hauptschiff hinabschritt, um die Hände der versammelten Gemeinde zu schütteln, die einander Frieden wünschte. Er streckte die Hand über James hinweg, um Emmas Kopf zu berühren. «Friede sei mit dir, mein Kind.»
    Genau so hatte die Sonne auch am Morgen ihrer Hochzeit kurz in die Kirche hineingeschienen. James erinnerte sich daran, wie er in der ersten Reihe auf der Bank gesessen hatte, neben Geoff, dem Kollegen, den er überredet hatte, sein Trauzeuge zu sein. Es hatte einige Überredungskunst gebraucht, dachte er jetzt. Geoff hatte sich zwar gefreut, dass er ihn fragte, aber er war überrascht gewesen und konnte sein Erstaunen nicht verbergen. «Ich würde es natürlich gerne machen. Aber für gewöhnlich macht das doch jemand aus der Familie. Oder ein Freund, mit dem du zur Schule gegangen bist. Jemand, den du schon seit Jahren kennst.» James sagte, da gebe es keinen. Keinen, den er lieber als Trauzeugen hätte als Geoff.
    Und so hatte er ganz vorn in der Kirche gesessen, erstaunlich ruhig, in dem sicheren Wissen, dass das, was er tat, genau das Richtige war. Die Musik setzte ein. Nicht der
Hochzeitsmarsch
. Sie hatten sich dagegen entschieden.
Die Ankunft der Königin von Saba.
Er wusste, dass Emma jetzt kam, aber er drehte sich nicht um, nicht sofort. Er wartete ein paar Takte ab, bevor er sich umwandte. Und genau indem Augenblick kam die Sonne hervor, warf das Blutrot des Buntglasfensters auf den elfenbeinfarbenen Satin von Emmas Kleid. Sie fing seinen Blick auf und lächelte nervös, und plötzlich dachte er, dass alles sich zum Besten gewendet hatte, wie am schmalzigen Ende eines Liebesromans. Der Tod seines Vaters, die

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