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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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Schande und der Skandal, alles, was dann gekommen war, all das mündete in diesen Moment, in dem er diese wunderschöne junge Frau zu der Seinen machte.
    Das Gefühl blieb nur kurz so überwältigend. Die Prozession   – Emma am Arm ihres Vaters, zwei kleine Brautjungfern, die vor Aufregung fast platzten – bewegte sich auf den Altar zu, und er musste sich darauf konzentrieren, bei dem Ritual alles richtig zu machen. Und doch hatte er eine Zuversicht daraus geschöpft, die unerschütterlich gewesen war. Bis zu dem jüngst geschehenen Drama.
    Als er jetzt in der Kirche saß, die Sonne durchs Fenster schien und der ältliche Pfarrer ihm die Hand gab, kehrte die Zuversicht zurück. Schließlich gab es doch nichts, weswegen er sich Sorgen machen müsste. Die Widrigkeiten der vergangenen Wochen würden vorübergehen, und alles würde wieder in seinen gewohnten Gang kommen. Er würde weiterhin Schiffe sicher den Fluss hinaufbringen und dann nach Hause gehen zu Frau und Kind. Nichts würde das Gleichgewicht ihres Lebens stören.
    Er hatte nicht erwartet, dass sich Robert und Mary dem Gedränge rund um die Kaffeetafel im Gemeindesaal aussetzen würden, und tatsächlich blieben sie einen Moment lang im Kirchenportal stehen.
    «Möchtest du lieber gleich heimgehen?», fragte Robert seine Frau. James hatte ihn immer für einen starken, verlässlichen Mann gehalten. Einen Mann, der seine Familie zusammenhält. Und unmittelbar nach Christophers Todhatte es so ausgesehen, als würde er diese Rolle auch weiterhin ausfüllen. Aber heute kam er ihm unschlüssig vor, zaudernd. Er wollte, dass Mary entschied, was zu tun sei.
    «Nein», sagte sie. James merkte, dass Springhead House der letzte Ort auf Erden war, an dem sie jetzt sein wollte. «Wir trinken erst einen Kaffee, ja?»
    Im Gemeindesaal fühlte sie sich in der Rolle des Gastes offenbar unbehaglich und war drauf und dran, in die Küche zu eilen, sich eine Schürze zu suchen und den Abwasch in Angriff zu nehmen.
    «Setzt euch», sagte James. «Ich bringe euch was zu trinken.» Er stellte sich in die Schlange und sah zu den beiden hinüber, die sich über den Resopaltisch hinweg an den Händen hielten und schwiegen. Sie sahen alt aus. Um sie herum kreisten die Gemeindemitglieder wie Raubvögel über einem Tierkadaver, begierig darauf, sie anzusprechen, ihr Beileid zu bekunden. Neuigkeiten zu erfahren.
    Emma war noch in der Kirche geblieben, nachdem der Rest der Gemeinde schon gegangen war. Sie hatte James am Ende des Gottesdienstes zugeflüstert, dass sie etwas Zeit für sich brauche. Das respektierte er. Sie war noch so jung und hatte schon so viel erlitten. Jetzt kam sie in den Saal, ohne die mitfühlenden Blicke wahrzunehmen, ihr Gesicht war bleich und still, ausdruckslos. Er hatte noch nie in sie hineinsehen können, und nach Christophers Tod hatte sie sich noch weiter von ihm entfernt. Zwar mochte er es nicht, wenn Gefühle lautstark zur Schau gestellt wurden – als er noch jung war, hatte er zu viel Geschrei und Streiterei, zu viele Tränen miterlebt   –, doch jetzt fragte er sich, ob er sie zum Weinen hätte ermutigen sollen. Ob er, als sie gefragt hatte, ob sie miteinander reden könnten, es ihr hätte leichter machen sollen, sich ihm anzuvertrauen.
    Er stellte seinen Schwiegereltern die Kaffeetassen hin. Zwei Frauen hatten ausreichend Mut zusammengerafft, um sie anzusprechen, und im Lichte ihrer Aufmerksamkeit waren Roberts Lebensgeister offenbar zurückgekehrt. James ging zu Emma hinüber, die am Fenster stand und auf den Kirchhof hinausschaute, wobei sie eine Strähne ihres Haars um den Finger wickelte.
    «Ich würde Robert und Mary gern zum Mittagessen einladen», sagte er. «Hast du was dagegen?»
    «Nein.» Sie wirkte überrascht, dass er sie fragte, als hätte er ihre Meinung in solchen Dingen sonst nicht eingeholt. Und vielleicht hatte er das ja auch nicht, dachte er. Seit sie verheiratet waren, war sie so unbeteiligt geblieben, dass er ihr Einverständnis immer voraussetzte. War er etwa mehr wie ein Vater zu ihr gewesen als wie ein Liebhaber?
    Im Captain’s House bestand er darauf, selbst zu kochen. Er bat Mary und Robert, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, und warf ein paar Holzscheite in die Glut im Kamin. Die Scheite waren trocken, und die Rinde fing sofort Feuer, kräuselte sich vom Holz ab und schickte Funken den Rauchfang hoch. Die beiden starrten in den Kamin wie hypnotisiert und bewegten sich erst, als er ihnen einen Sherry reichte. Noch immer sagten

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