Opferschuld
Vera wusste, es war echt. «Wo haben Sie das denn her?»
«Von Zeit zu Zeit kommen wir alle mal auf bescheuerte Gedanken.»
«Sie sind aber nicht hierhergekommen, bloß um mich das zu fragen.»
Vera antwortete nicht gleich. Am Anfang der Ermittlungen hatte sie geglaubt, sie könne dieser Frau nicht weiter als bis zur nächsten Ecke trauen. Jetzt war sie kurz davor, ihr Informationen zu geben, die sie noch nicht einmal Joe Ashworth mitgeteilt hatte.
«Dan Greenwood besitzt ein Dossier über den Mantel-Fall. Er bewahrt es in seinem Schreibtisch in der Töpferei auf, nimmt es immer mal wieder heraus und liest darin. Das könnte alles Mögliche bedeuten. Schuldgefühle, weil er sich Ihnen wegen Jeanie Longs Verhaftung nicht widersetzt hat. Sehnsucht nach einer Zeit, als er noch zu einem Team gehörte und Freunde hatte – jetzt scheint er ja eher ein Einzelgänger zu sein. Oder aber es steckt etwas Unheilvolleres dahinter. Vielleicht ist es eine Art Trophäe. Es könnte bedeuten, dass er sie umgebracht hat.»
Caroline hörte aufmerksam zu. Sie wies den Gedanken nicht sofort von der Hand. Sie wusste, was es Vera gekostet hatte herzukommen.
«Was steht darin?»
Vera zuckte die Schultern. «Ich hatte nicht viel Gelegenheit, es mir anzuschauen. Zeitungsberichte über den Fall, Kopien vom Ermittlungsprotokoll. Eine Kopie vom Obduktionsbericht. Bilder von der Obduktion. Ein Hochglanzfoto von dem Mädchen vor seinem Tod, auf dem es herausgeputzt und verführerisch aussieht.»
«Vielleicht haben wir Keith um ein Foto gebeten, das wirveröffentlichen können», sagte Caroline rasch. «Für einen Zeugenaufruf über die Medien. Es muss nicht heißen, dass Dan sie kannte, bevor sie ums Leben kam.»
«Ich dachte, mit so etwas hätten Sie sich nicht lange aufgehalten. Sie haben Jeanie Long doch ziemlich schnell festgenommen.»
«Das heißt nicht, dass wir anfangs nicht auch anderes in Betracht gezogen hätten …»
«Erinnern Sie sich denn daran, Keith um ein Foto gebeten zu haben?»
«Nein, aber das könnte ich nach all der Zeit auch gar nicht.»
«Trotzdem seltsam, dass Dan es zehn Jahre lang aufhebt.»
«Ja», sagte Caroline. «Mag sein.» Sie goss sich noch ein Glas Wein ein und schwenkte die Flasche in Veras Richtung, die den Kopf schüttelte. Sie würde warten, bis sie wieder im Hotel war, und dann was Richtiges trinken. Wieder saßen sie schweigend da.
«Was ist eigentlich mit den Kleidungsstücken passiert, die Abigail anhatte, als sie umgebracht wurde?», fragte Vera.
«Weiß der Himmel. Nach all der Zeit … Wieso wollen Sie das denn wissen?»
«Nur so.»
Caroline sah sie argwöhnisch an, drängte aber nicht weiter. «Dan hatte schon damals etwas von einem Einzelgänger. Ich meine, er war umgänglich, Teil des Teams, alle haben gern mit ihm gearbeitet, aber er gehörte bei den Jungs nicht wirklich dazu. Wissen Sie, was ich meine?»
Vera nickte. Er hätte sich nicht mit ihnen volllaufen lassen. Er hätte nie die Vorgesetzten verwünscht oder in einem sentimentalen Moment sein Herz ausgeschüttet.
«War er je verheiratet? Das habe ich auch nicht nachgeprüft.»
«Großer Gott, nein.» Caroline dachte nach und fügte dann hinzu: «Ich weiß nicht, warum das so undenkbar sein sollte. Vielleicht ist er einfach nicht der Typ dafür. Und er hat auch nie jemanden erwähnt.»
«Schwul?»
«Nein.» Dann, nachdem sie kurz nachgedacht hatte: «Zu mindest glaube ich das nicht.»
«Er fand Sie attraktiv, nicht wahr?»
«Wahrscheinlich, aber daran gewöhnt man sich. Eine Frau in einem Männerteam, und alle merken, dass der Job ihnen nach und nach sämtliche Beziehungen im Leben vermasselt. Nach einer gewissen Zeit schmeichelt einem das nicht mehr.»
Mir würde es schmeicheln, dachte Vera. Das kannst du mir glauben.
«Haben Sie sich von seiner Bewunderung nie bedroht gefühlt?»
«Nicht ein einziges Mal.»
«Gab es eine Gelegenheit, bei der er Abigail privat hätte kennenlernen können?»
«Ich kann mir keine vorstellen.»
«Vielleicht haben Sie ihn ja auf eine von Keiths Partys eingeladen?»
«Keiner meiner Kollegen wusste von Keith. Wir waren sehr diskret.»
«Dan hatte eine Vermutung. Während der Ermittlungen.»
«Wirklich? Er hat nie was gesagt.» Caroline wirkte eher belustigt als überrascht.
«Wo hat Dan gewohnt, als Abigail umgebracht wurde?»
«In Crill. Er hatte eine Wohnung in einem der großenReihenhäuser am Strand. Ich habe ihn manchmal von dort abgeholt.»
«Sind Sie je mit
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