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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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reingegangen?»
    «Ein- oder zweimal, ja. Manchmal war er noch nicht fertig, wenn ich kam, um ihn zu einer Ermittlung abzuholen. Einmal hat er mich am Ende der Schicht auf ein Bier mit reingebeten.»
    «Und wie war es dadrin?»
    «Verdammt kalt», sagte sie. «Die Wohnung hatte alte Schiebefenster, durch die es überall zog.» Sie sah Vera scharf an. «Er hatte keine Fotos von nackten Schulmädchen an den Wänden hängen, wenn es das ist, was Sie meinen.»
    «Haben Sie sein Schlafzimmer gesehen?»
    «Nein. Ich sagte es Ihnen bereits. So eine Beziehung hatten wir nicht zueinander.»
    Nun denn
, dachte Vera.
    Laut sagte sie: «Abigail ging in Crill zur Schule, oder?»
    «Ja, und der Bus brachte sie direkt dorthin und am Abend wieder zurück nach Hause.»
    «Außer wenn sie die Schule schwänzte.»
    «Was wollen Sie damit sagen?», fragte Caroline. «Dass Dan Greenwood sie auf der Straße aufgelesen und mit ihr geschlafen hat?»
    «Ich gehe allen Überlegungen nach.» Vera streckte den Arm aus und stellte ihr leeres Glas auf den Tisch. Wieder herrschte Schweigen, dann fragte sie: «Ist er denn so einer? Steht er auf junge Mädchen?»
    «Das tun die meisten Männer, die ich kenne. Sie sehen ein Schulmädchen die Straße langgehen, fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, das Gesicht mit Make-up zugekleistert, in Schuluniform, kurzer Rock, und sie gaffen. Das heißt nicht, dass sie irgendwas tun.»
    «Hat Dan Greenwood gegafft?»
    «Das weiß ich nicht!» Caroline verlor die Geduld. «Das sage ich doch die ganze Zeit.»
    «Aus was für einer Familie kommt er?»
    «Wie bitte?»
    «Tun Sie mir den Gefallen.»
    Caroline sah sie an, als gehörte sie weggesperrt, aber sie antwortete trotzdem. «Er ist ein Einzelkind. Ich glaube, seine Eltern waren schon älter, als sie ihn bekamen. Sein Vater war schon tot, als er zu unserem Team stieß. Seiner Mutter hat er nahegestanden, aber ich glaube, sie ist mittlerweile gestorben. Das Geld vom Verkauf ihres Hauses hat es ihm möglich gemacht, die Töpferei aufzubauen. Reicht Ihnen das?»
    «Ja», sagte Vera. «Das genügt.»
    «Er war ein guter Polizist. Manchmal dachte ich, er nimmt das alles zu ernst. Man konnte sich ausmalen, wie er nach Hause ging und den ganzen Abend über die Arbeit nachdachte und nachts noch davon träumte. Ein bisschen zu viel, dachte ich, und das hat mir Sorgen gemacht. Er sah alles entweder schwarz oder weiß. Aber er hat auch an anderen Fällen gearbeitet, die mit jungen Mädchen zu tun hatten, und ich hatte nie Bedenken wegen seines Vorgehens. Es gab keinen Tratsch im Team und nie irgendwelche Beschwerden.»
    Vera hievte sich aus dem Sessel. Eigentlich hätte sie froh sein sollen. Caroline hatte ihr gesagt, was sie hören wollte. Aber sie fühlte sich immer noch mies gelaunt und gereizt.
    Als sie schon an der Tür waren, setzte Caroline noch einmal an zu sprechen.
    «Meine Menschenkenntnis ist nicht sonderlich gut», sagte sie. «Es ist ja auch so eine Sache. Man sieht jemanden, und dann macht der was Komisches, und er könnte schüchtern sein oder ausgeflippt oder gefährlich. Wie sollman das wissen? Der gefährlichste Mensch, dem ich je begegnet bin, sah aus, als könnte er keiner Fliege was zuleide tun.»
    «Ich habe Dan Greenwood immer für harmlos gehalten», murmelte Vera. «Was hat das also zu bedeuten?»
    «Ich könnte mir schon vorstellen, dass er jemanden umbringt», sagte Caroline. «Wenn er glaubt, dass es das Richtige wäre. Das geringere von zwei Übeln. Aber das Gleiche würde ich über die meisten Männer sagen, mit denen ich gearbeitet habe.»
    Dann machte sie die Tür zu. Vera blieb kurz auf der Schwelle stehen und blickte über den Vorgarten auf die Straße hinaus. Im gegenüberliegenden Haus waren die Vorhänge noch nicht zugezogen, und zwei Kinder lagen bäuchlings vor dem Fernseher. In der Ferne schrillte die Alarmanlage eines Autos. Während sie dastand und über Carolines Worte nachdachte, hatte sie plötzlich wieder das Habichtsgefühl, erhaschte einen kurzen Blick auf das Gesamtbild. Langsam ging sie zu ihrem Wagen.
     
    Am Abend aßen sie und Joe Ashworth gemeinsam im Hotel. Das war ihnen bislang kaum einmal gelungen. Normalerweise hatte das Restaurant schon geschlossen, wenn sie kamen, und sie begnügten sich mit Fastfood im Auto oder Chipstüten. Heute Abend hatten sie es gerade noch rechtzeitig geschafft. Alle anderen waren schon beim Dessert oder Kaffee, und während sie aßen, leerte sich der Saal. Niemand konnte sie belauschen. Die

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