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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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anblickte.
    «Komm rein», sagte sie. Er sah aus, als wäre er kurz davor, etwas zu sagen. Sie schwiegen lange. Emma hatte den Eindruck, dass er sich einen Satz im Kopf zurechtlegte, und fragte sich, was es wohl war. Plötzlich schien er den Mut zu verlieren.
    «Ich lasse dich besser in Ruhe», sagte er. «Damit du dich entspannst.» Aber der Augenblick war für sie verdorben, und sie kletterte aus der Wanne.
    Obwohl sie nur über die Straße in den Pub gehen würden, machte sie sich hübsch fürs Ausgehen. Ihre Jeans und den gestreiften Pulli, den sie bei ihrem letzten Ausflug in die Stadt gekauft hatte, hatte sie schon auf dem Stuhl bereitgelegt. Sie kam, in ein großes Badetuch gehüllt, insSchlafzimmer und setzte sich vor das Frisiertischchen. Nachdem sie die Haare getrocknet hatte, nahm sie den Haarglätter, den Blick fest auf den Spiegel geheftet. Als sie die Arme über den Kopf hob, rutschte das Handtuch herunter, und sie musste es wieder feststecken. Dann trug sie in aller Ruhe ihr Make-up auf. Die ganze Zeit über war sie sich bewusst, dass James auf dem Bett saß und sie beobachtete.
    Sie wartete darauf, dass er sich hinter sie stellte und sie berührte, aber er saß ganz still und sah ihr zu. Sie fühlte sich außer Atem, aufgekratzt.
Lass uns hierbleiben,
war sie versucht zu sagen.
Wir können uns die Mühe sparen. Diesen ganzen Aufwand betreibe ich nur für dich.
Aber die Schüchternheit von vorhin hielt sie davon ab, und sie dachte auch, dass sie die Vorfreude genießen würde, den Reiz, im gleichen Raum zu sein wie er, umringt von Menschen, im Bewusstsein, dass seine Blicke auf ihr ruhten, und in dem Wissen, dass sie bald hierher zurückkommen würden.
    Sie fing seinen Blick im Spiegel auf und lächelte.
    «Und?», fragte sie. «Bin ich annehmbar?»
    «Du bist auf Komplimente aus.» Jetzt stand er hinter ihr. Er streckte die Hand aus und streichelte ihren Nacken. Sie hielt den Atem an, verriet sich aber nicht.
    «Nein, im Ernst. Ich war mir nie sicher, ob ich es richtig mache, und ich bin aus der Übung.»
    «Du siehst bezaubernd aus», sagte er. «Wirklich.»
    «Das ist natürlich nur Kriegsbemalung. Ich bin ganz schön nervös, wenn ich daran denke, den Leuten gegenüberzutreten. Ich brauche etwas, wohinter ich mich verstecken kann.»
    «Versteck dich hinter mir», sagte er. Wieder fing sie seinen Blick auf, und sie lachten beide über ihr Geturtel. Sie merkte, wie sich die Anspannung löste.
    Als sie in den
Anchor
kamen, waren die Stammgäste schon da. James machte die Tür auf, um Emma vortreten zu lassen. Drinnen blieb sie kurz stehen, um zu sehen, ob jemand da war, den sie kannte. Eine Gruppe Jugendlicher stand um den Billardtisch herum. Sie meinte, sie schon einmal auf den Schulbus warten gesehen zu haben. Jedenfalls waren sie kaum alt genug, um Alkohol zu trinken, aber was sollte man als Jugendlicher auf dem Dorf schon anderes tun? Sie selbst hatte natürlich nie in den Pub gehen dürfen. Sie erinnerte sich an endlose, langweilige Abende in Springhead House. Bis sie von zu Hause ausgezogen war, um zu studieren, hatte das kirchliche Jugendzentrum unter den wachsamen Augen ihres Vaters ihr einziges Vergnügen dargestellt.
    Ihr Kommen war bemerkt worden. Ein paar von den Männern vom Rettungsboot spielten gerade Darts und hielten einen Augenblick inne, um James zuzunicken. Hinter dem Tresen lächelte Veronica Emma zu und versuchte, ihre Überraschung zu verbergen. Sie kannten Veronica beide. Sie ging in die Kirche, nicht regelmäßig, aber zu besonderen Anlässen, am Ostersonntag, zum Mitternachtsgottesdienst an Heiligabend. Für den Wohltätigkeitsbasar im Sommer stiftete sie immer ein paar Getränke. Ihr Sohn war mit Christopher zur Schule gegangen, sogar in die gleiche Klasse. Emma strengte sich an, um sich an seinen Namen zu erinnern.
    «Wie geht’s Ray?» Er war ihr ganz plötzlich eingefallen.
    «Gut, danke.»
    «Was macht er denn jetzt so?» Emma fragte sich, wie gut sie sich wohl schlug. An diese Art Gespräch war sie nicht mehr gewöhnt.
    «Er ist zur Feuerwehr gegangen. Nach Leeds. Natürlich war er nie so gescheit wie euer Christopher, aber wir sindsehr stolz auf ihn.» Sie schwieg kurz. «Was passiert ist, tut mir so leid, Liebes. Es tut uns allen leid.»
    «Ich weiß», sagte Emma. «Ich weiß.»
    «Hat die Polizei schon jemanden dafür eingebuchtet?» Barry war plötzlich aus dem Hintergrund aufgetaucht. Die Hände flach auf den Tresen gestützt, stand er da und starrte Emma an. Er

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