Opferschuld
habe. Ich war wütend. Es kam ganz falsch raus. Sie hat mir nicht geglaubt. Sie hat ihre Sachen zusammengepackt und ist davongestürmt.»
«Und damals ist sie dann bei Mantel eingezogen?»
«Ja. Es war also doch alles meine Schuld. Der Tod von dem Mädchen. Dass Jeanie eingesperrt wurde. Wenn ich mich beherrscht hätte, wäre das alles nicht passiert.»
«Das wissen wir nicht. Noch nicht. Als Mantel Jeanie bat auszuziehen, ist sie da wieder zu Ihnen gekommen?»
«Es hat ihr zwar nicht gefallen, aber sie konnte nirgendwo anders hin. Sie war immer noch ganz vernarrt in Mantel. Wegziehen wollte sie nicht. Und das zwischen uns haben wir so halbwegs in Ordnung gebracht. Das war Pegs Verdienst. ‹Ich weiß, es passt dir nicht, aber wenn wir uns jetzt nicht bemühen, verlieren wir sie noch ganz.› Peg hatte sie einmal alle am Sonntag zum Essen eingeladen, Mantel, Jeanie und seine Tochter. Bei dem Aufwand, den sie trieb, hätte man meinen können, das Königshaus wäre bei uns zu Gast. Kaum etwas ist mir je so schwergefallen, wie mit diesem Mann an einem Tisch zu sitzen. Ihn lächeln zu sehen. Verdammt gut zu wissen, dass er genau weiß, was ich durchmache.» Michael hielt inne. «Die ganzen Jahre habe ich mich gefragt, ob das der Grund war, weshalb er was mit Jeanie angefangen hat. Oder wenigstens, weshalb er so lange mit ihr zusammengeblieben ist. Ob er das nur gemacht hat, um mir eins auszuwischen.»
Kapitel neun
James war überrascht, Emma nach dem Sonntagsessen in Springhead House mit Robert ins Gespräch vertieft zu sehen. Er wusste, dass ihm die Familientreffen mehr Spaß machten als ihr, und normalerweise war sie in Roberts Beisein nicht gerade entspannt. James hatte nie herausbekommen, was sie eigentlich gegen ihre Eltern hatte. Sie waren absolut vernünftig und zivilisiert und nicht einmal besonders fordernd. Er war klug genug, das für sichzu behalten, aber wenn Emma sich über Robert und Mary beklagte, benahm sie sich in seinen Augen wie ein verzogenes Kind. Das machte ihm nicht viel aus. Es war vor allem ihre Jugend gewesen, die ihn angezogen hatte. Sie hatte so rein und unerfahren gewirkt.
Sie saßen im Wohnzimmer von Springhead House, tranken Tee und aßen Rosinenkuchen, als plötzlich das Thema Familie aufkam. James hatte damit gerechnet, dass das eines Tages passieren würde, aber jetzt war er darauf nicht vorbereitet. Das Gespräch hatte ganz harmlos angefangen.
«Mary wird demnächst fünfzig», sagte Robert. «Wir überlegen, eine Party zu geben.»
«Ach, wirklich?» Mary kauerte vor dem Kamin und versuchte, das Feuer anzustochern. Sie verbrannten Holunderzweige, die noch grün waren und kaum Hitze abgaben, aber sie war ganz rot im Gesicht, weil sie in die Glut geblasen hatte.
«Na ja, ich dachte, das sollten wir. Unsere Silberhochzeit haben wir nicht groß gefeiert, und ich würde gern was für dich veranstalten.»
«Ich weiß nicht so recht …» Die Aussicht schien ihr Angst einzujagen, doch das merkte Robert gar nicht. «Wen sollen wir denn einladen?»
«Ganz zwanglos, unsere Freunde von der Kirche und die Jungen und Mädchen vom Jugendzentrum. Es fehlt mir, junge Leute hier zu haben.»
«Ach, ich halte das für gar keine gute Idee. Mir wäre ein kleinerer Kreis lieber. Nur die Familie.»
Und genau da geschah das Unerwartete.
«Wenn dir das lieber ist», sagte Robert. «Ich dachte auch, es wäre eine gute Gelegenheit, endlich einmal James’ Familie kennenzulernen. Du hättest doch nichts dagegen?»
Jetzt verspürte James einen Anflug von Panik und hoffte,dass er ihn besser verbarg, als Mary ihre Angst kaschiert hatte. «Das ist wirklich nett von euch. Aber da gibt es eigentlich niemanden. Ich habe keine engen Verwandten.»
«Das konnte ich noch nie so recht glauben. Es war doch traurig, dass bei eurer Hochzeit keine Verwandten von dir dabei waren. Wenn eine Familienfehde dahintersteckt, dann ist es jetzt an der Zeit, sich zu versöhnen. Es wächst eine neue Generation heran, an die man denken sollte.»
«Nein», sagte James, schärfer, als er es beabsichtigt hatte. «Es ist nichts dergleichen.»
«Denk darüber nach», sagte Robert. «Wenn dir irgendjemand einfällt, lad ihn einfach ein. Jeder hat doch eine alte Tante, einen Vetter zweiten Grades. Wir würden sie gern kennenlernen.»
«Ich habe wirklich niemanden» – James ließ nicht durchklingen, wie gereizt er war –, «ich bin ganz allein. Deswegen bin ich ja auch so dankbar, ein Ehrenmitglied der Familie Winter zu
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