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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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Wetterjacke. James musste an sich halten, um nicht laut zu rufen. Erst später sagte er sich, dass er in diesem Licht unmöglich eine Farbe erkannt haben konnte. Dass es ein Irrtum gewesen sein musste, eine Halluzination. Er glaubte nicht an Geister.

Kapitel zehn
    Es gab Lotsen, die die nächtliche Flut nicht ausstehen konnten, den Schlafmangel, die Mühe, sich in den frühen Morgenstunden mit einem Kapitän zu unterhalten, dersein Englisch aufbessern wollte. Doch James hatte so lange an der Kunst der Liebenswürdigkeit gearbeitet, dass sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Auch wenn er fast schon im Stehen schlief, schaute er sich noch Fotos von der Frau und den Kindern des Kapitäns an, diskutierte über Vor- und Nachteile der im Argos-Katalog abgebildeten Artikel mit einem Seemann, der die Vielfalt der auf dem billig glänzenden Papier abgedruckten Waren nicht fassen konnte, und nahm dankbar einen Becher Tee entgegen, auch wenn die Milch süß und dickflüssig war und aus der Dose kam.
    In dieser Nacht sprach er russisch. Das Englisch des Kapitäns war nicht schlecht, aber James’ Russisch war besser, und er war froh, dass er sich konzentrieren musste. Das hielt ihn davon ab, an die glänzende Tafel vor der Lotsenstation zu denken. An die Gestalt im Hafen. An Ertrunkene, die ins Leben zurückkehrten.
    James hatte sich in Emmas Abendkurs eingeschrieben, um ein paar grundlegende Begriffe zu lernen:
Zehn Grad Backbord, Kapitän, zwanzig Grad Steuerbord.
Auf diese Weise ließen sich Missverständnisse vermeiden, wenn er seine Anweisungen gab, und er war nicht davon abhängig, dass jemand für ihn übersetzte. Aus dem gleichen Grund hatte er im Semester davor Spanisch angefangen. Aber dann sah er Emma und blieb das ganze Jahr über in ihrem Kurs, entwickelte einen Ehrgeiz, den er in der Schule nie gekannt hatte, wild entschlossen, sie zu beeindrucken. Er bekam seinen Abschluss. Und Frau und Kind obendrein.
     
    Wenn man ein Schiff aus Goole herausbringen wollte, konnte man sich keinen Fehler leisten. Der Fluss Ouse war dort schmal, mit Ufern aus Beton, wie in einem Kanal. Für einen Frachter dieser Größe war es sehr eng. Wenn manmit einem Containerschiff auf den Hafen zufuhr, sah es völlig unmöglich aus, und Seeleute, die das zum ersten Mal erlebten, waren entsetzt. Wohin bringen Sie mich da? Das ist nicht möglich. Da muss ein Irrtum vorliegen. James genoss es, dass die Arbeit so viel Feingefühl verlangte. Es war eine Herausforderung, eine Prüfung seiner Fähigkeiten.
    Das Schiff fuhr langsam aus dem Hafen aus, der wie ein Filmset beleuchtet war. Schwarz und Weiß. Die Silhouetten der Kräne und Lagerhallen zweidimensional, als wären sie aus Spanplatten ausgeschnitten. Der Fluss wurde breiter, und der Wind frischte auf. Der Regen ließ nach, und plötzlich war auch die Sicht besser, sodass er jede Uferböschung ausmachen konnte, die von winzigen Lichtern gekennzeichnet war: Straßenlampen, Scheinwerfern, den beleuchteten Fenstern von schlaflosen Menschen und stillenden Müttern.
    Ein Junge mit einem Mund voller fauliger Zähne brachte ihm noch mehr Tee und etwas zu essen, einen fettigen Eintopf mit orange-grauen Möhren und grauen Kartoffeln, der besser schmeckte, als er aussah. Er hätte ihn auch sonst gegessen. Seit dem Mittagessen bei seinen Schwiegereltern war eine ganze Weile vergangen, und es gehörte sich nicht, das Essen abzulehnen.
    An der Flussmündung frischte der Wind wieder auf, Böen peitschten spitze kleine Wellen übers Wasser und spülten Gischt auf das Deck. Bei Tageslicht konnte man von hier aus den Turm von St.   Mary Magdalene in Elvet sehen und den Uferpfad, wo James manchmal mit dem Kinderwagen spazieren ging. Um etwas Bewegung zu bekommen und um sich zu erinnern. Es war sechs Uhr früh. Matthew würde bald laufen lernen. Der diensthabende Steuermann auf der Landspitze würde informiert sein, dass James mit dem Lotsenboot abgeholt werden musste.
    Dieser Gedanke, oder vielmehr das Zusammentreffen der Gedanken an St.   Mary Magdalene und den Steuermann des Lotsenboots, fügte in seiner Erinnerung etwas zusammen, und James wurde klar, dass der Mann, der in der Kirche vor ihnen gesessen hatte, Michael Long war. Gestern hatte James ihn nicht erkannt. Als James noch mit ihm gearbeitet hatte, war Long ein schroffer, ziemlich aggressiver Mann gewesen, der von James’ Liebenswürdigkeit offenbar nicht zu beeindrucken war. Natürlich war er in der Kirche gewesen: Er wollte um seine

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