Opferschuld
halten. Sie fand, ich hätte immer was an ihr auszusetzen, und vielleicht hatte sie ja recht. Ich hätte mir mehr Mühe geben sollen, besser mit ihr auszukommen.»
«Und sie hätte sich mehr Mühe geben sollen, besser mit Ihnen auszukommen», sagte Vera sanft.
«Nein. Damals habe ich so gedacht. Aber ich war zu sehr von mir selbst eingenommen.»
«Wie meinen Sie das?»
Er gab sich Mühe, es zu erklären. Das war nicht leicht, wenn er nicht angeben wollte, und für Angeberei war dies kaum der richtige Moment. «Damals war ich jemand hier im Dorf. Mitglied im Gemeinderat. Steuermann auf dem Boot, das die Lotsen zu den Schiffen auf dem Fluss rausbringt. Wenn Sie unten an der Landspitze waren, müssen Sie die Lotsenboote gesehen haben. Sie sind an der Anlegestelle vertäut.»
Sie nickte.
«Da wird viel Aufhebens drum gemacht. Eine Menge Bohei. Aber es ist nicht nur das, es ist auch ein lohnender Job, und man meint, man hätte ein bisschen Respekt verdient.» Wieder zögerte er. «Peg war der Meinung, dass Kinder ihren Eltern gegenüber keine Verpflichtungen haben. Sie sagte, sie haben ja nicht darum gebeten, auf die Welt zu kommen. Die Verpflichtungen gehen nur in die eine Richtung. Damals habe ich das nicht verstanden, aber heute glaube ich, sie hatte recht.»
Vera hielt sich zurück. «Ich habe keine eigenen Kinder», sagte sie nur.
Er hätte sie gern gefragt, ob sie denn Kinder gewollt habe. Er hatte immer angenommen, dass alle Frauen Kinder wollten, wenn sie älter wurden. Doch auch wenn er das Gefühl hatte, die dicke Frau, die sein halbes Wohnzimmer einzunehmen schien, schon lange zu kennen, fand er diese Frage ein wenig zu persönlich.
«Wie hat Jeanie Keith Mantel eigentlich kennengelernt?», fragte Vera plötzlich, und er war froh, dass das Gespräch wieder auf sichereren Boden kam. Mit Tatsachen konnte er besser umgehen.
«Das war hier in Elvet. Im
Anchor
. Sie hat halbtags da gearbeitet, seit sie zur Schule ging. Abgewaschen, bedient, ander Bar ausgeholfen, als sie älter war. Dort haben sie große Stücke auf sie gehalten. Die zuverlässigste Schülerin, die sie je beschäftigt hätten, hat Veronica, der der Pub gehört, immer gesagt.»
«Sie müssen stolz auf sie gewesen sein.»
«Doch», sagte er widerstrebend, «das war ich. Und nicht nur wegen ihrer Arbeit im Pub. Wegen der Prüfungen und der Musik und allem. Ich war zu stur, um ihr das zu sagen. Damals mochten mich die meisten gut leiden – Mike Long, der Partykönig, der das Dorf zusammenhält. Nur sie nicht, und das konnte ich nicht verstehen, ich konnte ihr nicht verzeihen, dass sie mich nicht toll fand.» Er warf Vera einen raschen Blick zu. «Tut mir leid. Ich rede dummes Zeug.»
«Hat Jeanie denn nicht noch studiert, als sie Mantel kennenlernte? Wieso war sie dann hier? Sie ist doch wohl kaum für einen Wochenendjob von Leeds nach Elvet zurückgekommen.»
«Sie hat sich eine Auszeit vom Studium genommen, für die Abschlussprüfungen. Ist für ein paar Wochen nach Hause gekommen, bevor die Tests losgingen. Peg hatte sie dazu überredet. Sie sagte, hier hätte sie es ruhiger zum Lernen. In Wahrheit wollte sie sie natürlich ein bisschen verwöhnen. Aufpäppeln. Veronica muss mitgekriegt haben, dass sie hier war, denn sie rief uns ganz aufgelöst an. Ob Jeanie wohl an ein paar Abenden im
Anchor
aushelfen könnte. Eins ihrer Barmädchen war krankgeschrieben, und sie selbst war schon bald am Zusammenklappen. Also tat Jeanie ihr den Gefallen und sprang ein.»
«Und da ist sie dann Keith Mantel begegnet?»
«Sieht so aus. Sie hat uns das damals ja nicht erzählt.»
«Wie kam es, dass sie bei ihm eingezogen ist?»
Es herrschte Stille. «Das habe ich verbockt», sagte erschließlich. «Ich habe einfach gesagt, was ich denke, ohne vorher zu überlegen. Wie immer.»
Vera sagte nichts. Diesmal würde sie ihm nicht aus der Patsche helfen.
«Als die Prüfungen vorbei waren, kam sie gleich wieder nach Hause. Damit hatten wir nicht gerechnet. Sie hatte davon gesprochen, den Sommer über auf Reisen zu gehen. Sie wollte nach Italien.»
«Allein?»
«Ja. Das war ihr immer am liebsten. Zumindest bis damals. Wie auch immer, sie kam zurück nach Hause. Uns erzählte sie was davon, dass sie hier in der Gegend bleiben müsste, falls sich die Gelegenheit ergibt, irgendwo vorzuspielen. Das klang ja auch sinnvoll. Sie wollte die Musik schon immer zu ihrem Beruf machen, und in dem Geschäft herrscht eine solche Konkurrenz. Sie sagte, sie kann es sich
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