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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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irgendwo sonst, wo er jemals gewesen war. Und er war um die ganze Welt gereist, um sein Kapitänspatent zu bekommen. Grauer Dunst über dem Meer im Sommer, schieferfarbene Gewitterwolken, eine See, die fast schon schwarz war. Heute Nacht war es ein undurchdringliches, fahles Grau, wie dichter Rauch, das das Scheinwerferlicht reflektierte.
    Die Scheibenwischer wirkten einschläfernd, und die Fahrt zur Lotsenstation war ihm so vertraut, dass er sich nicht darauf konzentrieren musste. Dann und wann kam James an eine Kreuzung, sah das Schild eines Pubs oder eine Kirche, die sich im Dunkel verbarg, und wurde sich mit einem Ruck bewusst, wo er gerade war. Ansonsten fuhr er automatisch, wie benommen. In diesem Zustand hätte er leicht in Gedanken an die Vergangenheit abschweifen können. Es hatte ihn beunruhigt, dass Robert wegen seiner Verwandten nachgebohrt hatte.
Es muss doch jemanden geben. Jeder hat eine alte Tante, einen Vetter zweiten Grades.
Und dann war da noch Keith Mantel. Sein Gesicht war überall. Starrte einem aus dem Fernseher, von der Titelseite der Zeitung entgegen. Es wäre ein Leichtes, länger darüber nachzudenken. Aber James hatte es sich antrainiert, unangenehme Gedanken zu vermeiden. Er hatte zu viel zu verlieren, wenn er der Panik nachgab. Ruhig atmete er ein und aus und dachte an Emma, die perfekte Frau für einen Lotsen, sanft und anspruchslos, die in seinem Bett lag und träumte.
    Er hatte die Außenbezirke der Stadt erreicht. Überall am Fluss sah man die Narben des Fortschritts, der Entwicklung. Halbfertige neue Straßen, schlafende Kräne, die Skelette abgerissener Gebäude. Bis vor einem Jahr waren die Lotsen in einem Haus aus dem 18.   Jahrhundert untergebrachtgewesen, das an einer netten Ecke mit Blick auf den Hafen stand. James hatte äußerst gern von dort aus gearbeitet. Wenn er durch die Tür ging, konnte er die Männer spüren, die vor ihm dort gewesen waren, er meinte sie sogar zu riechen, ihren Tabak und das Salz an ihren Kleidern. Das war seine Art, sich in die Tradition einzureihen. Für viele Männer dort war das ganz selbstverständlich. Ihre Väter und Großväter waren Lotsen gewesen, und sie waren als Jungs zusammen in die Trinity House School gegangen. Wann immer er nun zur Arbeit fuhr, plante er seinen Weg so, dass er an der alten Lotsenstation vorbeikam. Das Haus stand leer, wartete darauf, renoviert zu werden, die Immobilie war zu wertvoll, um noch länger dem Zweck zu dienen, für den man sie erbaut hatte. Er fuhr langsamer, bewunderte die Architektur des Gebäudes und dachte an seinen ersten Tag dort. Dann sah er, dass das Haus verkauft worden war. An der Vorderfront, zwischen den beiden Reihen hoher Fenster, hing eine riesige Tafel mit einem bekannten Logo:
     
    Liegenschaft erworben durch
    die Mantel Development
    zum Zweck des Umbaus
    in Luxusappartements.
    Alle Anfragen bitte an unser
    Büro in Kingston upon Hull.
     
    Einen Augenblick lang verwirrte ihn seine Reaktion auf diese Tafel. Er erkannte das Gefühl nicht, so lange hatte er keine Wut empfunden. Als er merkte, dass er der Wut nachgeben konnte, fühlte er sich kurz befreit. Dann war da nur noch Ekel. Als hätte jemand Hundedreck auf einem wertvollen Teppich abgetreten. Und als er in das schäbige Fertighaus trat, das jetzt als Lotsenstation diente, lächelte er wie immer charmant und gelassen.
    «Wie heißt der Frachter? Ach, richtig. Der Kapitän ist ein alter Bekannter von mir. Wird keine Probleme geben.»
    Er nahm sich die Schlüssel von einem der Lotsenautos und machte sich wieder auf den Weg. Die M62 war fast leer, und er fuhr zu schnell.
    Goole war eine kleine, von Hafenanlagen geprägte Stadt. Der Fluss schien mitten in das Netz aus engen Straßen zu schneiden. Es musste seltsam sein, aus dem Schlafzimmerfenster zu schauen und ein riesiges Containerschiff vorübergleiten zu sehen, so nah, dass man meinte, wenn man die Hand ausstreckte, könnte man den Schiffsrumpf berühren, und der Seemann, der auf der Brücke seinen Tee trank, würde einem auch einen Becher reichen. Als James durch die kleine Stadt fuhr, lag alles verlassen da. Zwei Uhr morgens, und es regnete immer noch. Er hätte meinen können, dass alle Welt schlafe, außer ihm und der Mannschaft, die auf ihn wartete.
    Doch als er das Auto verließ, um an Bord des Frachters zu gehen, sah er aus den Augenwinkeln einen Mann neben einem Stapel Container stehen. Die Gestalt kam ihm vertraut vor. Das Haar ganz kurz, wie abrasiert. Die marineblaue

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