Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
Vom Netzwerk:
blieb James einen Augenblick stehen, um den Kopf klar zu kriegen. Seine Muskeln waren steif. Er ging am Lotsenstand vorbei auf die kleine Anhöhe, von der aus er das Meer sehen konnte. Auf dieser Seite der Landspitze,in einem Dickicht aus Brombeerbüschen und Sanddorn, wimmelte es von Kaninchen. Nach Norden zog sich ein langer Strand bis zur Küste des Festlands hin. Während er geschlafen hatte, hatte sich der Dunst mit einem Mal gehoben, und das Licht war so klar und scharf, wie es nur vor einem Regenguss der Fall ist. Der Tanker, der vor der Küste wartete, sah lächerlich nah aus, und das Lotsenboot, das ihn schon umkreiste, leuchtete daneben wie ein Plastikspielzeug.
    Am Strand sah er zwei Menschen, dicht bei der Gezeitenlinie. Ein Mann und eine Frau. Das waren keine Vogelbeobachter. Vogelbeobachter kamen regelmäßig auf die Landspitze, aber sie waren alle gleich angezogen und hatten Ferngläser dabei. Davon abgesehen, gingen sie nicht unbedingt am Strand spazieren. Sie standen da, wo er jetzt stand, um die vorbeiziehenden Seevögel zu betrachten, oder sie kämpften sich die Pfade entlang, die durch das dichte Gestrüpp führten. James war sich nicht sicher, weshalb die Spaziergänger überhaupt seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Vielleicht war es der Mann, irgendetwas an dessen Art zu gehen, kam ihm bekannt vor. Er trug einen langen Mantel aus Gabardine, zu chic für einen Strandspaziergang, und hatte die Hände tief in die Taschen geschoben. Und dann seine Schuhe. Die meisten Leute würden Gummistiefel oder feste Schuhe anziehen, aber er trug gute Lederschuhe. Das Salz würde Flecken darauf hinterlassen. James ging in die Hocke, sodass man ihn nicht sah, und beobachtete die beiden. Der Mann blieb plötzlich stehen, redete aber weiter. Sein abruptes Anhalten hatte seinen Worten noch mehr Nachdruck verliehen, die Frau war nun ebenfalls stehen geblieben und musste ihm ihre volle Aufmerksamkeit schenken.
    Es war Keith Mantel. Seit Emma und er wieder nachElvet gezogen waren, war es James gelungen, ihm aus dem Weg zu gehen, und er sah älter aus als damals, als James ihn zuletzt gesehen hatte. Sein Haar war grau und sehr kurz geschnitten. Vielleicht hatte er ein bisschen zugelegt. James war sich nicht sicher, zumindest das Gesicht sah dicker aus. Dann drehte der Mann sich um, und das Paar setzte seinen Spaziergang fort, und sofort dachte James, er habe sich geirrt. Er hatte in letzter Zeit zu viel an Mantel gedacht, ihn in seiner Müdigkeit herbeigeträumt. Das da war ein anständiges Paar, das noch etwas Luft schnappen ging, bevor es in die Stadt fuhr, um sein stressiges Leben wiederaufzunehmen. Oder ein nicht ganz so anständiger Geschäftsmann, der sich ein paar Augenblicke mit seiner Geliebten gönnte. Obwohl nichts an diesem Treffen romantisch aussah. Es sah eher nach einer Auseinandersetzung aus. Die Frau ließ mit voller Absicht eine Lücke zwischen sich und dem Mann entstehen, bückte sich und hob einen Kieselstein auf, den sie mit einer Wucht ins Wasser schleuderte, die ihre Wut erkennen ließ.
    James wandte sich ab und ging zurück zur Straße, wo das Auto des Lotsendienstes geparkt war. Emmas Geschichten und Tagträume reichten für sie beide. Die Heizung im Auto war voll aufgedreht und blies ihm unangenehm warme Luft entgegen. James machte sie aus und setzte rückwärts vom Fluss weg. Langsam fuhr er den schmalen Weg hoch, vorbei an der kleinen Gruppe Häuser und dem Imbiss, der die Besucher im Sommer mit Tee und stapelweise Fritten versorgte. Er wollte gerade etwas schneller werden, als er bremste und in den öffentlichen Parkplatz einbog. Er war einfach zu neugierig. Auf dem Parkplatz standen nur zwei Fahrzeuge, nebeneinander, die Motorhauben auf die Flussmündung gerichtet. Das eine war eine schicke schwarze Limousine, das andere ein kastenförmiger Allradwagen. Auf der Seite desLetzteren war das Logo angebracht, das James auf der Tafel vor der Lotsenstation in Hull gesehen hatte. Und die Worte
Mantel Development
. Also doch keine Spinnerei. Kein Traum. Wenigstens diesmal halluzinierte er nicht.
    Wer war die Frau? Sie war reifer, als Mantels Geliebte es normalerweise waren. Solange James ihn gekannt hatte, hatte Mantel es auf junge Frauen abgesehen. Unerfahrene. Hatte er gehofft, etwas von ihrer Unschuld würde auf ihn abfärben? Erst kürzlich hatte James Gerüchte im Dorf gehört. Die Frauen aus der Kirche liebten anrüchige Geschichten, und soweit er verstanden hatte, war mal wieder

Weitere Kostenlose Bücher