Opferschuld
Tochter trauern. Der Selbstmord. Die schrecklichen Vorwürfe. James fröstelte, obwohl er dort am Steuer, wo er stand, vor dem Wetter geschützt war. Der kleine Raum war ganz warm, fast stickig. Er neigte nicht zu Phantastereien, doch plötzlich wurde er sich der Tiefe des Wassers unter dem Schiffsfrachtraum bewusst und fragte sich, wie es sich wohl anfühlte zu ertrinken.
Sie fuhren um die Landspitze herum. James konnte die hellerleuchtete Anlegestelle sehen, die Poller aus schwarzem Metall und den Lotsenstand, wo der Oberlotse saß. Die Wellen hier waren höher und mächtiger, und das Schiff begann zu rollen. Bald würden sie auf offener See sein.
«Beidrehen, Kapitän», sagte James ruhig. Seine Arbeit war fast getan.
Das Schiff schwenkte langsam herum, bis die Querseite des Rumpfes in den Wind zeigte. Das Lotsenboot war schon unterwegs. Die knisternde Stimme des Steuermanns informierte über dessen Position. James ging an Deck, um zuzusehen, wie es näher kam. Zuerst war es nur ein aufflackerndes Licht, das mit jeder Welle wieder verschwand. Der russische Kapitän stand neben ihm und klopfte ihm anerkennend auf den Rücken, als wären sie die besten Freunde.
«Gute Arbeit, Sir», sagte er auf Englisch. «Es ist immer wieder ein Vergnügen, mit Ihnen zu arbeiten, Lotse.»
Er ließ eine Flasche Wodka in James’ Tasche gleiten und winkte zum Gruß mit dem neuesten Argos-Katalog. James dankte mit einem Lächeln, als würde er nichts auf der Welt lieber trinken als Wodka. Das Lotsenboot umrundete den russischen Frachter und kam auf die windgeschützte Seite. Die Tasche über eine Schulter gehängt, kletterte James die Lotsenleiter hinunter, prüfte nach, ob das Boot in der richtigen Position war, und sprang an Bord.
Der Steuermann war eine Steuerfrau, die Wendy hieß, zierlich und dunkelhaarig war – und fest entschlossen, ihren Job ordentlich zu machen. Das war Michael Long nicht recht gewesen, erinnerte sich James. Durch eine Frau ersetzt zu werden musste ihm den Rest gegeben haben. Wendy drehte sich um, sah nach, ob er sicher auf seinem Platz saß, öffnete das Drosselventil, und schon befanden sie sich auf der Fahrt zur Landspitze.
«Gute Durchfahrt gehabt, Mr Bennett?», schrie sie ihm durch den Motorenlärm zu.
«Ziemliche Nebelsuppe bei den Whittons», sagte er. «Als wir da vorbei waren, ging’s.»
Es war jetzt acht Uhr und wurde hell. Blasser Sonnenschein drang durch die Wolken. Am südlichen Flussufer schimmerten Raffinerien und Schornsteine silbern durch den Dunst, es sah aus wie die Silhouette einer großen Stadt, Venedig vielleicht, oder St. Petersburg. James fühlte die Kälte, die Leere, den fehlenden Schlaf. Nach dem Geschaukel auf dem Schiff kamen ihm die ersten paar Schritte auf dem Anlegesteg ganz unnatürlich vor, als würden sich die Bohlen heben und einen Herzschlag zu früh auf seine Fußsohlen treffen. Er sah, dass keines der Autos vom Lotsendienst bereitstand, mit dem er zurück nach Hull fahrenkonnte, und dachte, wenn er ein Taxi nähme, hätte er wenigstens die Möglichkeit, ein wenig zu schlafen.
Wendy erriet, was ihm durch den Kopf ging.
«Bert wird gleich da sein. Ein Tanker, der nach Immingham muss. Er hat gesagt, wenn Sie kurz warten, können Sie seinen Wagen haben. Gehen Sie doch rein. Sie sehen aus, als könnten Sie einen Kaffee gebrauchen.»
«Ich könnte ein paar Stunden Schlaf gebrauchen.» Aber er meinte es nicht als Beschwerde.
Der Steward in der Lotsenstation machte ihm etwas Heißes zu trinken und ein Sandwich mit Bacon. In der Ecke stand ein Gasofen, der zischte und stank. James musste unmittelbar nach dem Essen eingenickt sein, denn als Bert kam, war es heller Tag.
James ging in eine Tagwelt hinaus, mit Kinderstimmen und einer Frau, die vor einem der Häuser der Rettungsbootmänner Wäsche aufhängte. Es war schon eine komische Gemeinschaft hier auf der Landspitze. Ein halbes Dutzend Familien, vom Festland abgeschnitten, nur durch einen schmalen Streifen aus Sand, Schlick und Beton, der bei der nächsten Flut brechen konnte, mit der Welt verbunden. Und die meiste Zeit ihres Lebens verbrachten sie mit Warten. Die Steuermänner der Lotsenboote warteten auf die Flut, und die Mannschaft der einzigen ständig besetzten Rettungswache im ganzen Land wartete auf eine Schiffskollision, darauf, dass jemand auf einer Sandbank strandete. Alles, was sie taten, folgte aus den Tragödien anderer Menschen.
Noch immer benommen von dem Gasofen und vom Schlafmangel,
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