Opferschuld
Humberside weist Vermutungen zurück, dies zeige mangelndes Vertrauen in die damaligen Ermittlungen. ‹Es ist doch oft von Nutzen›, sagt er, ‹einen Fall noch einmal ganz unvoreingenommen zu betrachten.›»
Es folgte ein Beitrag mit altem Filmmaterial, das Zeugen zeigte, die nach dem Prozess gegen Jeanie Long das Gerichtsgebäude verließen.
Emma knöpfte sich die Bluse zu und zog ihren Pullover herunter. Sie legte das Baby in den Kinderwagen im Flur und ging nach oben, um sich für einen Spaziergang zurechtzumachen. Ganz leise, um James nicht zu wecken, öffnete sie ihre Tür des Kleiderschranks und betrachtete alldie Kleider aus der Zeit vor der Schwangerschaft, die Blazer und Röcke und schicken Blusen, die sie beim Unterrichten getragen hatte. Doch heute kam ihr nichts davon passend vor, und sie nahm eine schwarze Hose, einen Pullover aus feiner Wolle mit breitem Kragen und ihren langen schwarzen Mantel und legte alles auf ihre Seite des Betts. Dann setzte sie sich ans Frisiertischchen und überlegte, ob sie sich schminken sollte. Schließlich trug sie als Kompromiss einen Tupfer roten Lippenstift auf, mehr nicht. Sie schrieb James einen Zettel.
Hab frische Luft gebraucht, bin mit Matthew spazieren.
Der Kleine sah ihr aus dem Kinderwagen entgegen. Er trug eine hellrote Mütze und rote Fäustlinge. Sie stellte das Schutzdach hoch und brachte die Scharniere mit Gewalt zum Einrasten. Der Wind sollte die Abdeckung nicht gleich wieder herunterwehen, wenn sie nach draußen trat. Als sie den Kinderwagen auf den Hinterrädern die Treppe hinunter auf den Platz holpern ließ, gluckste Matthew. Sie wusste, dass Dan Greenwood in der Töpferei war. Es hing kein Vorhängeschloss an der Tür, und sie hatte ihn um neun Uhr kommen sehen. Sie kannte seine üblichen Zeiten. Seit sie nicht mehr arbeitete, sah sie ihn an den meisten Tagen kommen und gehen. Im Sommer ließ er die Türen offen stehen, dann konnte sie hineinschauen. Aber heute wäre das erste Mal, dass sie sich ihren Traum erfüllte und hineinging.
In der gegenüberliegenden Ecke des großen Raums war ein Bereich, den er offenbar als Büro benutzte. Hinter einem alten Schreibtisch standen ein Aktenschrank und ein Computertisch. Dort war Dan. Er saß am Schreibtisch im Licht einer schwenkbaren Lampe über irgendwelchen Papieren und hatte die Stirn gerunzelt. Was er las, schien ihn zu ärgern oder aufzuregen. Er gehörte nicht zu denMännern, die ihre Gefühle mühelos verbargen. Einmal, im Sommer, als die große Tür offen stand, hatte sie gesehen, wie er einen Krug packte, den er gerade bemalte, und gegen die Wand schleuderte, wahrscheinlich sauer, weil es ihm nicht gelungen war, die Wirkung zu erzielen, die er wollte. Die Szene hatte sie erschreckt und fasziniert. James würde sich nie zu so etwas hinreißen lassen.
In dem Licht der Lampe hatte der Raum etwas Künstliches, wie eine Theaterbühne. Durch die schmutzigen Fenster im Dach kam nur wenig Tageslicht, und die Neonröhren, die an den Dachbalken hingen, waren nicht an. Emma stand wie das Publikum im Schatten. Sie zog die Tür hinter sich zu, und Dan blickte auf.
«Emma.» Er erhob sich halb, dann setzte er sich wieder. Sein Stuhl sah aus wie ein Restexemplar aus einer Dorfschule. Dan bewegte sich immer so plötzlich. Seine Hände waren so groß, dass Emma sich wunderte, wie er damit die kleinen Pinsel hielt, die empfindlicheren Tonwaren. Und wieder herrschte diese Spannung, die sie ihm gegenüber jedes Mal spürte. Sie hatte das für den Kitzel der gegenseitigen Anziehung gehalten. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher.
Das erste Mal war sie ihm begegnet, als er im Pub die Eröffnung der Töpferei gefeiert hatte. Er hatte alle eingeladen, die an dem Platz wohnten. Sie war gerade frisch verheiratet, und womöglich wurde ihr damals schon klar, dass die Ehe nicht den Ausbruch in die Freiheit bedeutete, den sie sich erhofft hatte, doch auf Abenteuer war sie nicht aus. Sie hatte schon genug Abenteuer erlebt, und ihre Arbeit füllte sie damals noch voll aus. Dan Greenwood stand an der Tür, um alle zu begrüßen, und sie erinnerte sich genau an das erste Aufeinandertreffen. Sie hob das Gesicht, damit er sie auf die Wange küsste, und sah die Erschütterung inseinen Augen, fühlte sie, als seine Lippen sie kurz streiften, sein Haar über ihre Haut strich. Es war, als hätte er eine alte Liebe wiedergetroffen, dabei war sie sich sicher, dass sie einander noch nie begegnet waren. Und den ganzen Abend,
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