Opferschuld
die sie besaß – ihrer Musik. Sobald er morgens das Haus verließ, fing sie an und spielte bis zu seiner Rückkehr. Natürlich gab es genügend andere Zimmer. Wenn Abigail wollte, konnte sie der Musik entgehen. Im alten Teil der Kapelle gab es einen Fernseher, eine Stereoanlage und einen Computer, und weil der Flügel im Anbau stand, der vom Rest des Hauses durch dicke Mauern abgetrennt war, konnte man das Klavierspiel dort kaum hören. Aber das war Abigail egal. Sie drohte damit, spätnachts mit einer Axt auf den Flügel loszugehen, und Emma traute ihr das auch zu. Sie sah schon das zersplitterte Holz und die leise nachschwingenden Saiten vor sich.
Emma und Abigail waren im Wintergarten. Abigail schaukelte in der Hängematte, ein Bein über den Rand gehängt. Es war der letzte Tag der Sommerferien, und den wollte Emma genießen. Die Sonne schien. Sie hätte am Strand sein und ihre Bräune auffrischen können, damit sie sich nicht so arg von den Mädchen unterschied, die ihre Ferien auf einer griechischen Insel oder Teneriffa verbracht hatten. Abigail war mit Keith in Florida gewesen, bevor Jeanie eingezogen war, aber sie war nicht der Typ, der schnell braun wurde. Ihre Haut war so weiß und glatt wie Wachs. Und Abigail wollte weder an den Strand noch mit dem Bus zum Schaufensterbummel nach Hull. Sie bestand darauf, zu Hause zu bleiben, um sich weiter in ihre Wut hineinzusteigern. Sie stieß sich mit dem Fuß von der Steinwand des Wintergartens ab, sodass die Hängematte heftig schaukelte. Die Seile knarrten in ihren Befestigungen. Es war ein lautes und gleichmäßiges Geräusch, wie Eselsschreie, doch Jeanie saß noch immer über die Tasten gebeugt. Entweder war sie so in ihr Spiel versunken, dasssie es nicht hörte, oder sie war fest entschlossen, es zu ignorieren.
Dann ging die Tür auf, und Keith Mantel kam herein. Er war fast doppelt so alt wie Jeanie, doch selbst Emma konnte verstehen, was ihn so anziehend machte. Er hatte sandfarbenes Haar, und sein Gesicht war sehr wohl von der Sonne in Florida gebräunt. Er hatte einen grauen Anzug und ein weißes Hemd an und trug eine Aktentasche, aber irgendwie schaffte er es, weder spießig noch allzu steif auszusehen. Zuerst merkte Jeanie gar nicht, dass er da war, dann bewegte er sich, oder es zog durch die offene Tür, denn sie hörte mitten in einer Phrase auf zu spielen und sah auf. Das Flüstern und Kichern der Mädchen hatte sie nicht gestört, aber bei seinem Erscheinen unterbrach sie ihr konzentriertes Spiel sofort.
Sie drehte sich auf dem bestickten Sitz des Klavierstuhls herum, sodass sie mit dem Rücken zum Flügel saß. Das Sonnenlicht strömte durch die Glastüren und schien ihr voll ins Gesicht. Ihre Züge strahlten vor Freude, ihn zu sehen.
«Wie schön», sagte sie. «Du bist früh daheim.»
Er stellte die Aktentasche ab und ging zu ihr hinüber, legte ihr die Hände auf die Schultern, die nackt waren, denn sie trug nur ein dünnes Top, und küsste sie auf den Kopf. Neben Emma machte Abigail ein Geräusch, als müsste sie sich übergeben. Emma durchzuckte ein stechender Neid. Sie war sich sicher, dass niemand sie je so küssen würde.
Seit jener blitzartigen Erinnerung in der Kirche hatte Emma versucht, sich mehr von ihrer Begegnung mit Jeanie Long ins Gedächtnis zu rufen. Als sie aufwachte, war es fast Mittag, das Buch war ihr auf den Boden gerutscht, und dieStelle, an der sie zu lesen aufgehört hatte, war verblättert. Oben lag Matthew wach in seinem Bettchen und reckte hin und wieder seine kleinen Hände einem kahlen Ast entgegen, der sich vor dem Fenster bewegte. James schlief. Auf dem Frisiertischchen lag seine Uniformmütze. Sein Atem ging sachte und gleichmäßig. Er behauptete, nie zu träumen, und als sie ihn da liegen sah, so ruhig und lautlos, glaubte sie ihm das beinahe. Emma wickelte Matthew und trug ihn ins Wohnzimmer, um ihn zu stillen. Sie machte den Fernseher an, um die Lokalnachrichten zu sehen, und landete bei einem Beitrag über die Wiederaufnahme des Mantel-Falls.
«Inzwischen hat sich ein Zeuge gemeldet, der sagt, er habe Jeanie Long an dem Tag, an dem die hübsche Teenagerin Abigail Mantel ermordet wurde, in London gesehen. Miss Long behauptete stets, an jenem Tag in der Hauptstadt gewesen zu sein, doch bis zu diesem Zeitpunkt gab es keine Beweise, die ihre Aussage untermauert hätten. Kommissare einer angrenzenden Grafschaft wurden hinzugezogen, um den Fall neu aufzurollen. Der Polizeipräsident von Yorkshire und
Weitere Kostenlose Bücher