Opferschuld
wollte nicht aufhören zu schluchzen, und das machte sie alle mürbe. Robert hatte seinen eigenen Wagen nehmen wollen.
«Hier hat ein Verbrechen stattgefunden», sagte sie. «Eskönnte eine Spur dran sein, wissen Sie, jemand, der Ihr Auto angefahren hat. Das müssen wir erst nachprüfen.»
Das akzeptierte er und ging am Ende ganz ruhig davon.
Der Himmel war immer noch klar, doch über den Gräben und Senken auf den Äckern hatten sich Nebelfelder gebildet. Der Weg zu Springhead House war voller Schlaglöcher, und ihre Reifen knirschten durch die gefrorenen Pfützen. Die Menschen im Haus mussten den Wagen gehört haben, aber sie rührten sich nicht. Eine Polizistin in Uniform machte ihr die Tür auf und brachte sie in die Küche, wo alle um eine große braune Teekanne auf einem Tablett herumsaßen und schwiegen. Robert Winter saß am Kopfende des Tisches, seine Frau zusammengesunken neben ihm. James umklammerte mit beiden Händen einen Becher Tee. Emma hatte ein schlafendes Baby auf dem Schoß.
Vera deutete leicht mit dem Kinn auf das Baby. «Sie haben den Kleinen also geholt?»
Das war Emmas Hauptsorge gewesen, als Vera sie alle bat, sich von der Zufahrt zu entfernen und anderswo auf sie zu warten. Robert wollte mit ihnen nach Springhead House fahren. Mary sei hysterisch, sagte er, sie müsse jetzt nach Hause. Emma bestand darauf, erst zum Captain’s House zu fahren. Das überraschte Vera. Der Bruder dieser Frau war ermordet worden, und sie beharrte auf einem Umweg über Elvet, um ihr Kind zu holen? Aber Vera wusste nicht, wie es war, Mutter zu sein, und überhaupt drückten die Leute ihren Kummer ja ganz unterschiedlich aus.
Vera hatte nicht erwartet, dass Mary noch bei ihnen sitzen würde. Ihr Kummer war roh und für alle sichtbar gewesen, was besonders verstörend war, weil die Frau eigentlich so zurückhaltend wirkte. Später sagte Vera zu ihrem Sergeant, es sei gewesen, wie wenn die Pfarrersfrauauf die Bühne des Gemeindesaals steigt und einen Striptease hinlegt. Man fühlte sich sehr unwohl dabei. Sie hatte der Polizistin, die abgestellt worden war, um bei der Familie zu bleiben, aufgetragen, einen Arzt zu rufen, und erwartet, dass Christophers Mutter, mit Beruhigungsmitteln betäubt, im Bett liegen würde.
Sie saßen alle in dicken Pullovern da, obwohl in der Küche geheizt war. Die plötzliche Wärme ließ Veras Ekzeme wieder jucken. Sie widerstand dem Drang, sich in den Kniekehlen zu kratzen, und setzte sich zu den anderen an den Tisch.
«Tee, Ma’am? Er ist gerade frisch gemacht.»
Die Polizistin stand noch immer in der Küche herum. Vera winkte sie ungeduldig hinaus. Die anderen saßen um den Tisch, sahen Vera mit ausdruckslosen Gesichtern an, wie erstarrt, und warteten darauf, dass sie etwas sagte. Vera konnte es sich nicht verkneifen, den Augenblick auszukosten. Sie hatte schon immer gern Publikum gehabt.
«Wir glauben, dass Christopher ermordet wurde», sagte sie vorsichtig. Sie wusste, dass es ihnen schwerfallen würde, die Tatsachen zu begreifen. Sie tat ihnen einen Gefallen, wenn sie ehrlich zu ihnen war. «Er hat eine Wunde im Schädel.»
«Kann er nicht ausgerutscht sein?», fragte James. «Der Weg war ganz vereist.»
«Er könnte schon ausgerutscht und mit dem Kopf auf die Straße gefallen sein. Aber das erklärt nicht, wieso er in dem Graben gelegen hat. Dort war nichts zu sehen, was eine solche Wunde hätte verursachen können. Es tut mir leid.»
Mary holte tief Luft und ließ sie als Schluchzer wieder entweichen.
«Geht es Ihnen gut?», fragte Vera. «Wenn es Ihnen lieberist, kann ich auch morgen mit Ihnen reden. Sollen wir einen Arzt holen?»
Die letzte Frage war an Robert gerichtet, aber bevor er antworten konnte, sagte Mary heftig: «Nein. Kein Arzt.»
«Es würde mir weiterhelfen, wenn ich wüsste, weshalb Christopher bei Mr Mantel am Haus war», setzte Vera an.
«Vielleicht hat er uns gesucht.» Vera hatte den Eindruck, dass es Emma widerstrebte, etwas zu sagen, aber womöglich sprach sie bloß leise, um das Baby nicht zu wecken.
«Aber natürlich. So muss es sein!» Mary sah fiebrig aus. Ihre Augen glänzten, und Röte überzog ihr Gesicht. «Er ist zu Mantel gekommen, um uns zu suchen. Im ganzen Dorf hingen Plakate für die Benefizveranstaltung. Ich habe es dir ja gesagt, Robert! Ich habe dir gesagt, ohne uns zu besuchen, würde er nicht zurück zur Universität fahren.»
«Christopher hat noch studiert?»
«Er hatte eine Forschungsstelle als wissenschaftlicher
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