Opferschuld
Mut. Das muss man ihr lassen. Will wohl ein bisschen auf den Busch klopfen. Den Druck erhöhen. Man hat mir gesagt, dass sie zu ihrer Zeit eine ganz ordentliche Polizistin war. Sie wird den Dreh ja nicht verlernt haben. Oder sie will sich ein bisschen umhorchen. Alle sind locker und freundlich, da schwatzt gern mal einer. Sie wird wissen wollen, woher der Wind weht.»
Vera brummelte eigentlich nur noch vor sich hin. Wenn sie ihr in der Stadt begegnet wäre, dachte Emma, hätte sie sie für eine Obdachlose gehalten, für eine von diesen übelriechenden Frauen unbestimmbaren Alters, die auf Parkbänken sitzen und mit den Bäumen sprechen. Sie sah sich nach James um, ihn würde es bestimmt amüsieren, dass dies die Kommissarin war, die man geschickt hatte, um den Fall zu klären, aber sie konnte ihn nirgends sehen.
«Sie haben doch mit Caroline bestimmt schon über das, was damals passiert ist, gesprochen», sagte Emma.
«Denken Sie? O nein, Herzchen. So arbeite ich nicht. Ich bilde mir erst eine eigene Meinung. Schaue mir die Akten an, rede mit den Leuten, auf die es ankommt. Und auf die Polizei kommt es in den meisten Fällen nicht an. Mit Caroline rede ich, wenn ich mit dem Rest fertig bin.»
«Vielleicht ist sie ja deswegen hier. Um mit Ihnen zu reden.»
«Glauben Sie das?» Vera lachte kurz auf und ging weg, wobei sie sich unterwegs das Bier eines anderen Gastes schnappte. Als Emma sie das nächste Mal sah, brummelte sie immer noch, aber diesmal in Dan Greenwoods Ohr. Dan war auch Polizist gewesen, dachte Emma. Und auf ihn kam es offenbar an. Als sie nach Caroline Fletcher Ausschau hielt, war die dunkelhaarige Frau verschwunden.
Die Schreie mussten ungefähr mit dem Feuerwerk eingesetzt haben, sodass Emma sie zunächst gar nicht wahrnahm. Und doch hörte sie sie als Erste, denn sie stand am weitesten vom Feuer entfernt. Sie gab es nicht gern zu, aber Feuerwerk jagte ihr Angst ein. Es war der atemlose Moment zwischen dem Aufleuchten der Raketen und dem plötzlichen Knall. In diesem Sekundenbruchteil der Stille spürte sie ihr Herz hämmern und wie sie beinahe ohnmächtig wurde. Gern hätte sie James’ Arme um sich liegen gehabt, damit sie die Stille mit Reden hätten füllen können, aber er sprach mit Dan Greenwood und Robert. Da standen sie beisammen, die Kerle, und lachten. Eine Rakete schoss ins Dunkel, explodierte in einem Regen grellbunter Sterne, und auf einmal hörte Emma die Schreie.
Sie ging ums Haus, zur Zufahrt hin, denn von dort schienen sie zu kommen. Die schmale Straße wurde nur spärlich von ein paar Laternen und der dünnen Mondsichel beleuchtet. Da stand eine Frau und schrie. Es war wie damals, als sie Abigails Leiche gefunden hatte, nur andersherum. Genau das umgekehrte Bild, ein paralleles Universum. Denn diesmal war es ihre Mutter, die schrie, und sie, die losrannte. Und ihre Mutter zerrte sie am Arm und deutete in den Graben neben der Straße. Und wieder lag da eine Leiche.
Aber Abigail Mantel hatte im Tod hässlich ausgesehen, viel hässlicher als zu Lebzeiten. Christopher, der auf dem Rücken im Graben lag, wurde vom Mond beschienen, was seiner Haut einen eisigen blauen Schimmer verlieh, der sie an den Stoff des Kleides erinnerte, das sie als Brautjungfer bei der Hochzeit einer Cousine getragen hatte. Dicht gewebter, matter Satin mit silbernen Querfäden. All das ging ihr durch den Kopf, als sie Mary in die Arme nahm und ihr die gleichen Beteuerungen zuflüsterte, die sie vor zehnJahren gehört hatte: «Alles wird gut, alles wird wieder gut.» Sie glaubte nicht, was sie sagte, aber sie spürte, wie das Schluchzen ihrer Mutter sich legte und ihr Atem ruhiger wurde.
Dann tauchte Vera Stanhope auf, massiv und schroff.
«Wer ist das denn?»
«Das ist Christopher, mein Bruder.»
Einen Moment schwieg Vera entsetzt, dann sagte sie: «Ach, Herzchen», und legte ihre riesigen Hände kurz um Emmas Gesicht, sodass Emma in ihrer Verwirrung glaubte, Vera wollte sie küssen. Stattdessen nahm Vera beide Frauen bei den Schultern und führte sie von dem Ort weg. Dann stellte sie sich mitten auf den Weg, sodass kein Auto vorbeikam, und sprach hektisch in ihr Handy.
Teil zwei
Kapitel zwanzig
Die Ekzeme an ihren Beinen lenkten Vera Stanhope ab. Es fühlte sich an, als hätten ihre Glieder ein Eigenleben, als durchdrängen kleine maulwurfartige Tiere die Haut und lebten von ihrem Fett und Blut. Ihr war, als könnte sie das Schnaufen und Wühlen spüren. Es war immer das Gleiche, wenn sie
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