Opferschuld
steht und gegen die Tür hämmert, war so eindringlich gewesen, dass sie es nicht loswerden konnte, obwohl doch Christopher dort gestanden hatte.
«Jeder hat mal einen Abend frei, Herzchen.»
O nein, Sie nicht. Sie mögen den Clown spielen, doch Sie sind die intelligenteste Frau, der ich je begegnet bin.
«Und außerdem ist es für einen guten Zweck, nicht wahr?» Vera strahlte. «Rettungsboote und so was. Leute bergen.» Sie schaute zurück zum Haus. In dem hohen Fenster der Kapelle lag der Widerschein des Feuers. «Hier haben Sie und Abigail also jenen Sommer verbracht. Geheimnisse miteinander geteilt. Waren beste Freundinnen.»
Emma sah sie durchdringend an und fragte sich, wie die Kommissarin erraten haben konnte, dass «beste Freundinnen» ihr Verhältnis kaum korrekt beschrieb. Ihre Stimme klang wie ein Echo von Christopher, der gesagt hatte: «Sie war deine einzige Freundin. Ich dachte immer, du hättest sie gehasst.» War es Hass gewesen? Emma überlegte. Abigail war die Gebieterin gewesen und sie die gekaufte Gefährtin, die ihr schmeichelte, über ihre Witze lachte und Verständnis zeigte, als Jeanie Long kam und alles verdarb.Sicher hatte sie Verbitterung empfunden. Aber Hass? Warum hatte sie es denn so lange ausgehalten? Weil es Momente echter Zuneigung gab. Und weil dem Haus der Mantels ein Glanz innewohnte, der ihrem übrigen Leben fehlte.
Vera sah sie an, als würde sie eine Antwort erwarten.
«Wir waren gerade erst hergezogen», sagte Emma. «Ich war einsam, und Abigail war der erste Mensch, den ich traf, der freundlich zu mir war. Ja, wir haben den Großteil jenes Sommers zusammen verbracht.»
«Sie war ein hübsches Ding.» Vera trank die Dose leer, zerquetschte sie in ihrer Faust und warf sie auf den Stapel neben den Grills. «Ich habe Fotos gesehen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie keine Verehrer hatte.»
«Sie hatte haufenweise Verehrer.»
Jungs, die sich erboten, ihre Hausaufgaben zu machen, und mit Musikkassetten, die sie nur für sie aufgenommen hatten, in die Schule kamen. Jungs, die rote Flecken im Gesicht bekamen und keinen Ton mehr herauskriegten, wenn Abigail sie irgendwie ermutigte.
«Aber keinen besonderen?»
«Nicht dass ich wüsste. Sie hat gesagt, sie interessiert sich nicht für Kinder.»
«Und jemand, der älter war? Ein Junge, der schon studierte, vielleicht. Und über die Sommerferien daheim war.»
«Sie hat nie jemanden erwähnt.»
«Hätte sie das denn?»
Früher hätte Emma wie aus der Pistole geschossen geantwortet.
Aber natürlich. Wir haben uns immer alles erzählt.
Jetzt zögerte sie und wählte ihre Worte mit Bedacht.
«Ich weiß es nicht. Ich habe auch nochmal über alles nachgedacht, und womöglich kannte ich sie nicht so gut, wie ich dachte. Ich meine, in dem Alter ist man doch auchganz schön gewieft. Und hat Geheimnisse, die man mit niemandem teilt. Nicht mal mit seiner Freundin.»
Vera zog ihre raupenförmigen Augenbrauen in die Höhe und wollte wohl gerade etwas sagen, da nahm etwas anderes ihre Aufmerksamkeit gefangen. Vor dem Feuer stand eine Frau. Sie stand seitlich zu ihnen, im Profil, und war allein. In der Hand hielt sie ein Glas Rotwein, der vor dem flackernden Feuer schwarz aussah.
«So, so, so …» Vera klang mit sich selbst zufrieden. Als hätte ihr jemand ein unerwartetes Geschenk gemacht. «Was sie wohl hier will?» Zu Emma sagte sie: «Sie erkennen sie doch wieder, Herzchen, oder? So sehr hat sie sich nicht verändert. Hat sich ganz gut gehalten. Geht mehrmals die Woche ins Fitness-Studio, würde ich sagen. Und mit Make-up kann man ja auch eine Menge ausrichten. Heißt es jedenfalls.»
Die Frau drehte sich um. Sie war schlank, dunkelhaarig, sehr gepflegt. Ihre Fingernägel hatten die gleiche Farbe wie der Wein.
«Wenn ich gehässig wäre», fuhr Vera fort, «würde ich behaupten, sie hat sich die Nase machen lassen. Was meinen Sie?»
Emma wollte schon sagen, dass sie die Frau in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte, doch dann rief ihr die Art, wie das glänzende dunkle Haar bei jeder Bewegung mitschwang, etwas ins Gedächtnis. «Das ist doch Caroline Fletcher, die Kommissarin, die damals mit dem Fall befasst war.»
«Hundert Punkte für Ihre Beobachtungsgabe.»
«Ich hätte gedacht, sie würde sich lieber im Hintergrund halten», sagte Emma. «Nach all den Andeutungen in der Zeitung.»
«Soweit ich gehört habe, hat sich unsere Caroline inihrem ganzen Leben noch nicht im Hintergrund gehalten. Aber sie hat
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