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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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jeden Fall wird da was in den Unterlagen stehen», sagte Vera, obwohl sie davon nicht überzeugt war. In der Mantel-Akte klafften mehr Löcher als in einem Schleppnetz, das am Fish Quay von North Shields zum Trocknen aushing. Und der Geruch war auch in etwa derselbe. «Aber wenn er den ganzen Tag zu Hause war, kann er nichts gesehen haben, was eine Bedrohung für den Mörder dargestellt hätte. Verstehen Sie, was ich denke?»
    «Ich habe zwar gesagt, dass er ein stiller Junge war, aber an Selbstvertrauen hat es ihm nicht gemangelt», sagte Robert ungeduldig. «Wenn er irgendwas Verdächtiges gesehen hätte, dann hätte er das damals auch gesagt.»
    «Wissen Sie, ich bin mir nicht sicher, ob das so stimmen muss.» Vera saß da, die Unterarme flach auf den Tisch gelegt. «Die Polizei hat nicht lange gebraucht, um Jeanie festzunehmen. Er hätte keinen Grund gehabt, an diesem Urteil zu zweifeln. Nicht nur kleine Kinder halten uns Erwachsene für unfehlbar. Er hätte sich jeden Hinweis, der in eine andere Richtung deutete, aus dem Kopf geschlagen, oder nicht?»
    «Bis heute», sagte James ruhig. «Bis klarwurde, dass esein Justizirrtum war. Dann wäre es ihm wieder eingefallen. Hat er gestern Abend irgendwas in der Richtung gesagt, Em?»
    Emma schüttelte den Kopf. «Er hat viel unzusammenhängendes Zeug geredet, aber nein, über den Mord an Abigail haben wir nicht gesprochen. Nicht ausdrücklich.»
    «Davon ganz abgesehen», sagte Robert, «haben wir bereits festgestellt, dass Christopher damals den ganzen Tag hier war. Er kann gar nichts von Bedeutung gesehen oder gehört haben.» Vera fand, dass er klang wie ein gereizter Lehrer, der versuchte, einem dummen Schulkind das Offensichtliche einzuhämmern.
    «Von seinem Zimmer aus kann man das Feld sehen, wo ich Abigail gefunden habe», sagte Emma langsam. Sie wandte sich Vera zu. «Er hat oben auf dem Dachboden geschlafen. Später an jenem Abend haben wir von seinem Fenster aus alles beobachtet. Die Scheinwerfer und die Leute von der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen. Genau wie heute Abend. Wir haben gesehen, wie sie Abigails Leiche weggetragen haben.» Sie schien ganz in ihre Erinnerungen versunken zu sein.
    «Hat er viel Zeit in seinem Zimmer verbracht?»
    «Stunden», sagte Robert, und er klang noch gereizter. «Ich habe es Ihnen doch schon erklärt. Er gehörte nicht zu den Jungen, die immer jemanden um sich herum brauchen.»
    Vera hatte den Eindruck, dass Emma dazu etwas sagen wollte, es sich dann aber anders überlegte, deshalb stand sie abrupt auf, wobei die Stuhlbeine über den Fliesenboden ratschten.
    «Das reicht für heute Abend», sagte sie. «Wir sprechen morgen weiter.» Sie fasste Emma am Arm. «Bevor ich gehe, könnten Sie mir noch zeigen, wo der Junge geschlafen hat?»
    Emma reichte James das Baby und führte Vera nach oben. Als sie am zweiten Treppenabsatz waren, hörten sie den Kleinen schreien. Emma blieb kurz stehen, dann verebbte das Geschrei, und sie ging weiter.
    Das Zimmer lag im zweiten Stock und sah noch weitgehend aus wie ein Jugendzimmer. Es war schmal und länglich, eine der beiden Längsseiten bildete die Außenwand. Darin waren zwei Fenster. Die gegenüberliegende Wand war mit Bücherregalen vollgestellt. Hauptsächlich Sachbücher, die so wirkten, als hätte man sie auf Wohltätigkeitsbasaren zusammengesucht. Es gab ein Bett mit einer gestreiften Steppdecke und einen weißlackierten Schrank. Von den Fensterbänken aufwärts breitete sich Eis wie feine Spitze auf der Scheibe aus, weiter oben war sie beschlagen. Die Fensterbänke waren niedrig und tief genug, um darauf zu sitzen. Emma lehnte sich dagegen und wischte mit der Hand ein Guckloch in das beschlagene Glas. An der anderen Fensterbank nahm Vera die gleiche Position ein.
    «Hier haben wir gesessen», sagte Emma. «Wir beide. Jetzt kann man nicht viel sehen. Sie müssen bei Tageslicht wiederkommen.»
    Vera starrte nach draußen. Das Mondlicht war fahl, und man konnte in der Landschaft nur wenig erkennen. «Wo lag die Leiche?»
    «Von hier aus ungefähr beim dritten Feld.»
    Man sah kein Haus, keine Straßenlaternen oder Autoscheinwerfer. Das Mantel-Haus wurde von einer Baumgruppe und einer kleinen Senke in der Landschaft verdeckt.
    «Flach wie eine Flunder», sagte Vera. «Man könnte meilenweit sehen, nicht wahr? Jeden, der diesen Weg entlangkommt oder geht. Wissen Sie noch, ob Ihr Bruder vernommen wurde?» Sie kannte die Antwort, noch bevor Emma den Kopf geschüttelt

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