Opferschuld
landeinwärts, die Siedlung war neu und chic. Man sah Doppelgaragen und aufwendige Gesimse, und hinter jedem Haus machte sich ein riesiger Wintergarten breit. Es war genau die Art Siedlung, in der Ashworth eines Tages gern wohnen würde, nach seiner Beförderung. Vera würde man wegen ihres ungepflegten Gartens und der flegelhaften Freunde dort gar nicht erst dulden.
Sie stand in der Auffahrt und sah sich um, forderte die Nachbarn geradezu heraus, von ihr Notiz zu nehmen. «Ich finde, wir waren wirklich diskret», sagte sie. «Wir hätten ja auch in einem Panda kommen können.»
Ashworth wusste genau, dass sie ihren Spaß hatte, undwar klug genug, ihr den nicht zu verderben. Durch die Vorhänge des Nachbarhauses linste ein kleines Kind heraus. Ein Mädchen mit Lockenkopf in einem pinkfarbenen Bademantel, ungefähr so alt wie sein Sohn. Er winkte ihm zu, und es verschwand. Vera hämmerte schon gegen Carolines Eingangstür. In einem der oberen Fenster brannte Licht. Sie hörten Schritte.
Die Tür ging auf. Ein großer Mann mit Molchgesicht und langem Hals starrte sie an. Er trug einen unauffälligen Anzug mit dunkler Krawatte.
Bestatter oder Buchhalter,
dachte Vera. Seine Haare waren noch nass vom Duschen.
«Könnten Sie Caroline ausrichten, dass wir sie gern kurz gesprochen hätten?» Vera schenkte ihm ein friedliches, breites Lächeln.
Ein Zeitungsjunge in einem schwarzen Anorak kam herangeschlendert. Wie bei einer Frau in einer Burka verbarg die Kapuze sein Gesicht bis auf die Augen. Er stopfte dem Molch ein Exemplar der
Financial Times
in die Hand. Buchhalter also. Der Molch sah auf die Schlagzeile und antwortete nicht gleich.
«Wir haben nicht ewig Zeit.»
«Ich bin mir nicht sicher …»
Vera atmete tief ein, dann sagte sie laut und übertrieben deutlich: «Mein Name ist Vera Stanhope. Kriminalpolizei Northumberland. Ich möchte mit Caroline Fletcher sprechen.»
Der Zeitungsjunge blieb am Tor stehen und drehte sich neugierig um. Noch ehe er aus der Schule wieder zu Hause war, würde sich die Nachricht in der ganzen Siedlung verbreitet haben. Das Gesicht des Mannes lief leuchtend rot an, die gleiche Farbe wie der Vorhang, der in dem kleinen Fenster neben ihm hing. Ausgesprochen hübsch, dachte Vera. Vielleicht ist er ja doch kein Molch, sondern eine ArtChamäleon. «Dann gehen Sie rein», sagte er hastig. «Caro line ist drinnen im Wohnzimmer.» Und dann, im Versuch, seine Würde zu wahren: «Sie müssen mich leider entschuldigen. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit.» Er schnappte sich den Autoschlüssel von einem Tischchen im Flur und eine Aktentasche, die neben der Treppe stand, und schob sich an ihnen vorbei.
Caroline stand im Wohnzimmer. Sie musste den Wortwechsel gehört haben, doch sie wartete, bis die beiden eingetreten waren und die Tür hinter sich zugemacht hatten, bevor sie etwas sagte.
«Kann ich Ihnen irgendwie helfen?» Wie eine dieser frostigen Damen in den Edel-Kaufhäusern, die Parfum verkauften. Solche, die Vera für gewöhnlich ungehindert an sich vorbeiziehen ließen. Es war noch nicht halb acht, aber sie war angezogen und zurechtgemacht – als hätte sie gewusst, dass Vera aufkreuzen würde, auch ohne Insiderinformationen zu bekommen. Vera hatte auf der Polizeidirektion niemandem von ihren Plänen erzählt. Aber Caroline hatte sechs Jahre lang bei der obersten Polizeibehörde gearbeitet. Sie war schnell befördert worden, gut in ihrem Job gewesen. Vera hatte sie unterschätzt. Genauso hätte Caroline die Sache auch angepackt.
«Wer war das?», fragte Vera. «Ihr Mann?» Immer noch standen sie alle.
«Sie wissen, dass ich nicht verheiratet bin. Das haben Sie doch sicher nachgeprüft. Alex und ich leben seit vier Jahren zusammen.» Sie sah sehr streng aus, trug einen schwarzen Rock über schwarzen Stiefeln und ein Rollkragentop von der Farbe reifer Pflaumen. Nirgendwo beulte sich etwas aus oder schlabberte herum, alles saß perfekt da, wo es hingehörte.
«Wie nett», sagte Vera vage. Sie setzte sich in einen Sesselneben dem Gaskaminofen und zog Notizblock und Kugelschreiber aus der Tasche. «Wie alt sind Sie jetzt?»
«Das haben Sie doch auch nachgeprüft. Sechsundvierzig.»
«Man sieht es Ihnen nicht an», sagte Vera bewundernd. Das meinte sie auch so. Sie waren ungefähr im gleichen Alter, aber Caroline sah zehn Jahre jünger aus. «Was fangen Sie denn jetzt so mit sich an?»
«Ich bin Immobilienmaklerin.»
«Sind Sie eine gute Maklerin?»
«Ich verkaufe mehr Immobilien als
Weitere Kostenlose Bücher