Opferschuld
nicht.»
«Ich war verlobt. Ich dachte, das wäre, was ich wollte. Ehe, Kinder, das ganze Paket. Ich sah nicht, wie der Job da hineinpassen sollte.»
«Und was ist passiert?»
«Es hat nicht funktioniert. Ich meine, ich konnte es nicht durchziehen. Vielleicht bin ich nicht der Typ zum Heiraten.»
«Aber Sie sind nicht wieder zur Polizei gegangen.»
«Ich hatte mich an regelmäßige Arbeitszeiten gewöhnt, an meinen Schlaf in der Nacht, an die hohen Provisionen.»
«Machen Sie Ihren Job gern?»
«Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass ich gut darin bin. Verkaufen. Manchmal glaube ich, ich bin dafür geboren.»
Wofür bin ich wohl geboren?, fragte sich Vera. Dafür, Menschen, die mich anlügen, zu durchschauen? Warum begreife ich dann nicht, was hier los ist? Sie wusste, dass sie noch mehr Fragen hatte, aber sie fand nicht die richtigen Worte, um sie zu stellen. Also stand sie auf. Joe Ashworth folgte ihr, überrascht, dass die Befragung so schnell vorbei war. Als sie gingen, ließ Caroline Fletcher keine Erleichterung erkennen. Sie hatte wohl verstanden, dass sie wiederkommen würden, dachte Vera.
Kapitel zweiundzwanzig
Als sie ins Captain’s House kamen, saß Emma, von Frühstücksresten eingerahmt, am Küchentisch. James wollte gerade gehen, er war für die Arbeit angezogen. Vera musterte ihn bewundernd, als er sie hereinließ. Die Uniform stand ihm, auch wenn er sehr müde und blass aussah.
«Ich bin froh, dass Sie da sind», sagte er, bemüht, leise zu sprechen. Sie standen in dem hohen Flur, aber die Tür zum Esszimmer war offen, und man konnte hindurch bisin die dahinterliegende Küche sehen. «Ich möchte Emma eigentlich nicht allein lassen, aber sie will nicht, dass ich ihre Eltern herbitte. Sie sagt, die haben ihren eigenen Kummer.»
«Haben
Sie
denn keine Familienangehörigen, die bei ihr bleiben könnten?», fragte Ashworth. Er kam aus einer Familie, die eng zusammenhielt, und seine Frau auch. Er konnte sich kein wichtiges Ereignis in ihrem Leben vorstellen ohne einen Haufen Verwandter. Was auch passierte, das kleine Reihenhaus seiner Eltern war dann gesteckt voll, die Leute saßen Knie an Knie auf Stühlen, die aus dem ganzen Haus zusammengesucht wurden, die Kinder tobten oben herum, seine Ma richtete in der Küche Sandwiches und Tee für ganze Hundertschaften, und sein Dad schenkte den Männern Bier aus. Im Rückblick verschmolzen die Ereignisse, die sie zusammengebracht hatten, miteinander, die Todesfälle, Verlobungen und Taufen.
Doch James schien der Frage mit Argwohn zu begegnen. «Keinen hier in der Nähe», sagte er. Er rief Emma einen Abschiedsgruß zu und ging aus dem Haus.
Emma entschuldigte sich für die Unordnung, machte aber keine Anstalten aufzuräumen. «Wer sind Sie denn?», fragte sie Ashworth und schlug sich sofort die Hand auf den Mund. «Tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich bin wohl irgendwie an Dan gewöhnt.»
«Das ist mein Sergeant, Joe Ashworth.» Vera ging über die Anspielung auf Greenwood hinweg. Sie wusste nicht, wie sie sie verstehen sollte. Gab es da etwas, das sie übersah? Führte Dan Greenwood sich auf wie ein Idiot? Sie konnte ihn sich durchaus als Romantiker vorstellen, der sich in eine Frau verliebte, die unerreichbar war, so wie die Frau des Lotsen. «Joe arbeitet in Northumberland mit mir zusammen. Er ist hier, um mir zu helfen. Warum redenSie nicht ein bisschen mit ihm, während ich uns Kaffee mache.»
Ashworth nahm Emma gegenüber Platz. Er schob eine Packung Cornflakes beiseite, sodass nichts mehr zwischen ihnen stand. Vera setzte Wasser auf und blieb bei der Spüle stehen. Sie beobachtete das Gespräch und zwang sich, selbst den Mund zu halten.
«Hatte Christopher eine Freundin?», fragte Ashworth sanft. «Irgendwen, den man von seinem Tod in Kenntnis setzen sollte?»
«Ich glaube nicht. Keine feste Freundin.» Emma blickte unvermittelt auf. Vera sah, dass sie geweint hatte. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Nacht wach gelegen und geweint. Die Haut um ihre Augen war samtig und geschwollen, als wäre sie geschlagen worden. Es sah aus, als könnte man die Haut mit dem Daumen abrubbeln, wie die Schale einer zu lange gekochten Roten Bete. «Christopher hat Abigail die Schuld dafür gegeben. An dem Abend hier hat er gesagt, er wäre von ihr besessen gewesen. Seit jenem Sommer. Keine andere konnte ihr gerecht werden. Das war natürlich Unsinn. Falls er überhaupt von ihr besessen war, konnten vielleicht seine Freundinnen nur seinen
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