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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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irgendjemand sonst in dem Unternehmen.»
    Du musst natürlich in allem, was du angehst, die Beste sein,
dachte Vera.
Woher kommt das wohl? Und bist du deshalb bei der Polizei ausgestiegen? Es gibt nichts Unheilvolleres als die Angst, etwas falsch zu machen. Denn in diesem Job unterlaufen einem zwangsläufig Fehler.
    «Kaffee?», fragte Caroline.
    «Aye, wieso nicht? Mit Milch, ein Stück Zucker. Joe hier trinkt ihn schwarz.»
    Während Caroline draußen war, kritzelte Vera auf ihrem Notizblock herum. Spinnen und ineinander verwobene Netze. Joe Ashworth, der ihr von der anderen Seite des Zimmers aus zusah, dachte, dass ein Psychologe seine helle Freude an ihr hätte. Caroline musste in der Küche schon alles vorbereitet, aufs Tablett gestellt und das Wasser schon gekocht haben, denn sie kam beinahe sofort wieder zurück, umhüllt von Kaffeeduft. Sie stellte alles auf den Tisch – eine silberne Kaffeekanne, drei zusammenpassende Kaffeebecher, Zuckerdose, Milchkännchen, eine Auswahl Shortbread auf einem braunen Teller. Vera schaute auf.
    «Waren Sie noch bei Mantels Feier, als gestern Abend die Leiche von dem Jungen gefunden wurde?»
    «Nein.» Caroline widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Einschenken des Kaffees. «Ich habe nur eine Karte gekauft, weil es sich um einen guten Zweck handelte. Ich bin nicht lange geblieben.»
    «Aber Sie haben gehört, wer umgebracht wurde?»
    «Es kam heute Morgen im Radio.» Und jemand hat dich angerufen, dachte Vera. Musste dich anrufen.
    «Christopher Winter, der Bruder von der Kleinen, die Abigail Mantels Leiche gefunden hat.»
    «Ein merkwürdiger Zufall», sagte Caroline ruhig. Sie reichte Ashworth einen Becher Kaffee.
    «Nun ja. Möglicherweise.»
    «Glauben Sie etwa, sein Tod ist für die alten Ermittlungen von Bedeutung?»
    Darauf zu antworten, erachtete Vera nicht der Mühe wert. «Sie müssen damals mit dem Jungen gesprochen haben. Was war Ihr Eindruck?»
    Es entstand eine kurze Pause, während Caroline an ihrem Kaffee nippte. Sie hinterließ einen Lippenstiftfleck auf dem weißen Porzellan. «Ich kann mich nicht erinnern», sagte sie. «Ich meine, ich kann mich nicht mal daran erinnern, mit ihm gesprochen zu haben. Er war doch bloß ein Kind. Jünger als Abigail. Nicht im gleichen Jahrgang in der Schule.»
    «Er hätte aber ein Zeuge sein können.» Immer noch sprach Vera in ruhigem, vernünftigem Ton.
    «Er war den ganzen Tag mit seiner Familie zusammen. Kirche um halb elf, dann nach Hause zum Essen. Er war nicht mehr draußen. Dan Greenwood hat am Mordtag kurz mit ihm geredet.»
    Dann erinnerst du dich ja doch. Oder du hast in deinen Aufzeichnungen nachgesehen. Zumindest hast du deine Geschichte vorbereitet. Als sie Caroline genauer ansah,merkte Vera, wie müde die Frau war. Hatte sie geschlafen? War sie überhaupt im Bett gewesen? Oder hatte sie ihr Gedächtnis die ganze Nacht über nach Fakten durchforstet, die zu ihrer Entlastung dienen konnten? Vera versuchte, eine Woge des Mitgefühls abzuwehren. «Haben Sie jemals sein Zimmer gesehen?»
    Es entstand eine Pause. Caroline antwortete nicht sofort. Sie ist gut, dachte Vera. Vor Gericht wäre sie brillant gewesen. Durch nichts zu erschüttern. Die Staatsanwaltschaft hätte ihr zu Füßen gelegen.
    «Ich erinnere mich nicht», sagte sie. «Ich müsste in meinen Notizen nachsehen.»
    Vera beugte sich nach vorn. «Schauen Sie», sagte sie. «Ich kapiere nicht, wieso es hier ein Problem gibt. Was haben Sie zu verlieren, wenn Sie mir gegenüber mit offenen Karten spielen? Den Dienst haben Sie doch schon quittiert. Niemand wird sagen, dass Sie nachlässig waren. Wozu auch? Und wenn doch, wird es in einem internen Bericht stehen, den die Presse niemals zu sehen bekommt.»
    «Ich bin also der ideale Sündenbock, nicht wahr?»
    «Ich schreibe den Bericht. Sie werden den ganzen Mist am Ende nicht allein ausbaden müssen. Jedenfalls nicht, wenn Sie mich nicht für dumm verkaufen. Ich weiß, wie es ist, als Frau mit diesem Haufen zu arbeiten.» Sie schwieg kurz. «Ich frage Sie also noch einmal. Haben Sie sich das Zimmer des Jungen angesehen?»
    «Nein», sagte Caroline. Ganz gegen ihren Willen klang ihre Stimme interessiert: «Warum hätte ich das tun sollen?»
    «Von seinem Zimmer aus konnte er auf das Feld sehen, wo Abigails Leiche gefunden wurde. Er war den ganzen Nachmittag dort oben. Er ist vielleicht Zeuge ihrer Ermordung geworden.»
    Sie sackte zusammen, als hätte ihr jemand in den Bauch getreten, und wand sich.

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