Opfertod
dichter an den Leichnam herantreten. Die Paste, die sie sich unter die Nase schmierte, konnte zwar über den Gestank hinwegtäuschen, nicht aber über das Gefühl von Ekel und Abscheu, das der Anblick in ihr aufsteigen ließ.
»Nur damit wir uns richtig verstehen – Sie erfahren von mir nicht mehr, als Sie in den nächsten Tagen ohnehin in der Presse lesen würden«, stellte Böttner klar und zog ruckartig das hellgrüne Tuch weg, das die Leiche vom Unterleib abwärts bedeckte. »Wäre Ihre Frage hiermit beantwortet?«
Lena musste schlucken und spürte, wie sich ein mulmiges Gefühl in ihrem Magen ausbreitete. Komm schon, reiß dich am Riemen! Krampfhaft versuchte sie, den Obduktionssaal um sich herum mit all seinen Lichtern und Gerüchen für einen Moment auszublenden, um sich auf den Leichnam zu konzentrieren. Warum ausgerechnet ihre Füße? , fragte sie sich. »Was unterscheidet die Füße von denen von Yvonne Nowak …«, murmelte sie abwesend vor sich hin.
Der Gerichtsmediziner sah sie schief an. »Worauf wollen Sie hinaus?«
Lena beantwortete seine Frage mit einer Gegenfrage. »Was meinen Sie, welche Schuhgröße diese Tote gehabt haben mag?«
Er setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Gute Frage, sie ist eins siebenundsechzig groß …« Sein Blick schweifte hinüber zu den Röntgenaufnahmen, die er vom Skelett der Toten angefertigt hatte, und wieder zurück zu der Leiche auf dem Untersuchungstisch. »Vielleicht siebenunddreißig oder achtunddreißig – beschwören kann ich’s aber nicht.«
Lena nickte. »Wie sich inzwischen herausgestellt hat, hatte das vorherige Opfer, Yvonne Nowak, Schuhgröße neununddreißig – was anscheinend nicht der Vorstellung des Täters entsprach, sonst hätte er Nowaks Füße wohl kaum achtlos in die Spree geworfen.«
Böttner kräuselte die Stirn. »Dafür hat er bei Nowak die Beine behalten.«
Lena überlegte.
»Er ist sehr wählerisch und hat seine Opfer im Vorfeld sehr genau beobachtet.«
»Sie meinen, die Opfer kannten ihren Mörder?«
»Wäre gut möglich«, überlegte Lena und senkte den Blick wieder auf den verwesten Leichnam auf dem Seziertisch.
»Konnten Sie schon feststellen, was die Todesursache war?«, fragte Lena.
Böttner kratzte sich an seinem glattrasierten Kinn. »Das Opfer ist aller Wahrscheinlichkeit nach infolge der Amputation verblutet. Genau wie die anderen. Um zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen, müssen wir erst die toxikologischen Resultate und den Befund aus der Forensischen Chemie abwarten.« Er ging zum Fußende des Tisches und winkte Lena heran. »Schauen Sie sich das an – ist es nicht faszinierend, mit welcher Präzision er die Füße abgetrennt hat?« Sein Tonfall war fast ehrfürchtig, während Lena förmlich spüren konnte, wie sich jede Faser ihres Körpers dagegen sträubte, weiter hinzusehen.
»Er muss dafür eine Knochensäge benutzt haben«, erläuterte Dr. Böttner und zog eine Schublade in dem Rollwagen auf. »So eine wie die hier.« Er hielt eine gut vierzig Zentimeter lange Säge hoch und legte sie wieder zurück in die Schublade.
»Und wer könnte im Besitz einer solchen Säge sein?«
»Rein theoretisch jedermann.« Er zog das Tuch wieder über die Beine der Toten und lachte amüsiert auf. »Knochensägen gibt es nicht nur in der Chirurgie, sondern auch in jedem x-beliebigen Gastro- oder Fleischerei-Bedarf.«
Lena nickte und ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen, während Böttner sich vor ihren Augen daranmachte, die Lunge zu entfernen.
»Kann ich mal Ihre Toilette benutzen?«, fragte Lena und räusperte sich.
»Den Gang entlang, erste Tür rechts«, sagte Böttner und konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. »Sagen Sie bloß, Ihnen ist übel?«
»Nein«, meinte Lena bestimmt und verschwand Richtung Toilette.
Sie hatte die Tür noch nicht lange hinter sich geschlossen, da lag der Burger, den sie unterwegs auf die Schnelle gegessen hatte, in der Kloschüssel. Lena betätigte die Klospülung und ging zum Waschbecken. Sie spülte ihren Mund aus und tupfte ihn mit einem rauen Papiertuch rasch ab – da sah sie es plötzlich wieder: Blut! Überall Blut an ihren Händen! Lena schlug das Herz bis zum Hals. Der Seifenspender, schnell! Wie besessen wusch sie sich mit Unmengen von Seife die Hände. Schrubbte ihre Finger immer fester unter dem Wasserhahn, bis ihre Haut brannte und es ihr endlich gelang, die schrecklichen Erinnerungen zu verdrängen. Außer Atem ließ sie sich gegen die
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