Opfertod
gesucht hatte: das Fotoalbum. Zügig durchblätterte sie das Album. Als sie ein Foto entdeckte, das bei den Schwimmmeisterschaften aufgenommen worden war, hielt sie inne. Lena stand zwischen den übrigen in die Kamera grinsenden Teenagern. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die darunterstehenden Namen: Corinna Radusch, Alexander Köstner, Melanie Stockheim, Annemarie Große, Viktor Rudolf. Ihr Finger blieb stehen. Suzanna Wirt. Nachdenklich betrachtete Lena das Foto. Mit dem Album in der Hand lief sie zurück in die Küche und verglich das Foto mit dem Bild der Toten im aufgeschlagenen Zeitungsartikel. Die Ähnlichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Doch die Qualität der Bilder war zu schlecht, als dass eine eindeutige Übereinstimmung auszumachen war. Lena wusste, die Angelegenheit würde ihr keine Ruhe lassen. Und sie hatte auch schon eine Idee, wie sie endgültige Gewissheit darüber erlangen würde, wer die Tote war. Sollte es sich dabei tatsächlich um ihre alte Freundin handeln, würde sie wenigstens noch so lange in der Stadt bleiben, bis der Fall aufgeklärt war. So viel war sie Suzanna Wirt schuldig. Rasch räumte sie die Kiste wieder ein, nahm ihren Trenchcoat von der Garderobe und eilte zur Wohnungstür hinaus.
31
Gegen halb sechs stellte Lena ihren Motorroller vor dem Institut für Rechtsmedizin in Moabit ab. Sie verstaute ihren Helm und hastete über das Gelände des ehemaligen Städtischen Krankenhauses, wies sich beim Pförtner aus und verschwand im Eingang der Forensischen Pathologie. Lena lief zielstrebig auf den Obduktionssaal zu. Die klassische Musik, die über den Flur drang, sagte ihr, dass Dr. Kurt Böttner heute diensthabender Pathologe war. Böttner arbeitete niemals ohne Musik, andernfalls brächte ihn das Schweigen der Toten um den Verstand, wie er Lena bei ihrem Besuch in der Pathologie gestanden hatte.
»Guten Tag, Doktor Böttner«, sagte Lena und trat in den sterilen, mit Kunstlicht ausgeleuchteten Raum, während sich die elektrische Schiebetür surrend hinter ihr schloss. Der Gerichtsmediziner, ein Mann um die fünfzig mit schütterem rötlichem Haar, das im Nacken zu einem dünnen Pferdeschwanz gebunden war, stand im Schutzkittel am Untersuchungstisch über eine stark verweste Leiche gebeugt, deren Brust er bereits geöffnet hatte. Er sah kurz auf und nickte ihr zu, ehe er mit der Obduktion fortfuhr. Lena blieb gut einen halben Meter vor dem Seziertisch stehen. Obwohl der Gang in die Pathologie für sie längst Routine war, kam ihr beim Anblick der sterblichen Überreste aus nächster Nähe noch immer die Galle hoch. Die entnommenen Organe wie Leber und Herz, die in gesonderten Metallschalen lagen, waren ihr dabei ebenso wenig zuträglich wie der faulige Geruch, der den Raum durchzog. »Ist sie das?«, fragte Lena mit einer Selbstverständlichkeit, die suggerieren sollte, dass sie Dreschers Team noch angehörte.
»Soweit ich weiß, wurde Ihnen der Fall entzogen«, wusste Dr. Böttner. »Sie dürften also gar nicht hier sein.«
Verdammt, sie hätte sich denken können, dass sich ihre Suspendierung bereits herumgesprochen hatte! Aber was hatte sie auch anderes erwartet? Sie vergrub die Hände in den Hosentaschen und sah Böttner schuldbewusst an. »Ich weiß«, gab sie zu und schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Aber wenn es sich bei der Toten tatsächlich um die vermisste Suzanna W. handelt, kann ich sie möglicherweise identifizieren.«
»Erzählen Sie das dem Drescher, nicht mir. Ich mache hier bloß meine Arbeit.« Plötzlich stieß er einen Lacher aus. »Außerdem müssten Sie schon Hellseherin sein, um diese Tote hier noch identifizieren zu können. Bis auf wenige verfaulte Gewebereste sind die schlammverkrusteten Haare am Schädel das Einzige, was Nagetiere und Maden übrig gelassen haben.«
Lena nickte und spürte, dass ihr erneut übel wurde. Tatsächlich ließ der Anblick des Leichnams nicht einmal mehr erahnen, ob es sich dabei um ein weibliches oder männliches Opfer handelte, geschweige denn um ihre Freundin. »In der Zeitung stand, das Opfer gehe auf das Konto des Stümmlers – um welche Art der Verstümmelung handelt es sich denn?«
Böttner seufzte. »Sie geben wohl nie auf, was?«
Statt eine Antwort zu geben, grinste Lena nur.
»Na schön«, stöhnte er, legte mit einer lockeren Handbewegung das Skalpell auf die Ablage des Rollwagens mit den chirurgischen Instrumenten und reichte ihr schließlich einen Tiegel mit Mentholpaste. Lena musste zwangsläufig
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