Opfertod
von ihr entfernt. Sie hatte es jetzt fast geschafft, als sie plötzlich spürte, dass sie jemand an den Beinen packte. Sie wollte schreien, brachte jedoch nur krächzende Laute heraus, denn auch ihre Zunge war bereits gelähmt. Im nächsten Moment wurde sie rückwärts über den Flur zurück ins Zimmer geschleift.
29
Zwei Tage später.
Donnerstagmorgen, 12. Mai
Seit Lena der Fall entzogen worden war und sie wusste, dass in dem Fitnessstudio auch Volker Drescher regelmäßig anzutreffen war, hatte sie es vorgezogen, wieder joggen zu gehen. Gerade an diesem Tag brauchte sie ein bisschen Bewegung, um den Kopf freizukriegen. Der Schweiß drang ihr aus den Poren und ihr Herz hämmerte in der Brust, während sie sich zwang, immer weiterzulaufen. Vorbei am Märchenbrunnen, den Beachvolleyballfeldern und Skateboardrampen im Friedrichshainer Volkspark. Lena überquerte die Kreuzung und joggte weiter die Straße hinauf, bevor sie an einem Zeitungskiosk abrupt stehen blieb. Sie verschnaufte kurz, während sie die Schlagzeilen der Tageszeitungen überflog. Nachdem sich am Vortag die Nachricht über den schrecklichen Tod einer jungen Reporterin, die mit entstelltem Gesicht im Tiergarten gefunden worden war, wie ein Lauffeuer in den Medien verbreitet hatte, schien die grausame Mordserie jetzt bereits das nächste Opfer gefordert zu haben.
»Stümmler schlägt erneut zu« , lautete die Schlagzeile einer großen Boulevardzeitung. Wieder handelte es sich um eine Frau aus Berlin. Das darf doch nicht wahr sein! Lena nahm etwas Kleingeld aus ihrer Hosentasche und kaufte die Zeitung.
»Ihr Wechselgeld!«, rief ihr der Mann aus dem Kiosk noch nach, doch Lena joggte bereits zügig heimwärts.
Mit der Zeitung und einer Tüte Brötchen unter dem Arm eilte sie wenig später durch den kargen Innenhof, als ihr ein blonder, blass aussehender Mann, der ungefähr in Lenas Alter war und an seinem auf dem Sattel stehenden Fahrrad herumwerkelte, freundlich zuwinkte. »Hey, Sie müssen die neue Nachbarin sein!« Er erhob sich und wischte sich die ölverschmierten Hände an einem alten Lappen ab, ehe er in T-Shirt, einer knielangen Army-Hose und ausgelatschten Chucks mit ausgestreckter Hand auf Lena zukam. »Lukas Richter.«
Lena fuhr sich mit dem Ärmel ihres Kapuzenpullis über die verschwitzte Stirn und erwiderte seinen festen Händedruck. »Lena Peters, ich wohne erst seit einigen Tagen hier.«
»Ich weiß.« Er grinste. »Ich wohne gleich dort drüben«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf seine Wohnung. »Falls du irgendwas brauchst – klingle einfach. Wenn ich nicht gerade im Proberaum bin, sitze ich ohnehin den ganzen Tag vorm Computer«, erklärte er hilfsbereit.
Lena bedachte ihn mit einem freundlichen Lächeln. »Das mache ich.« Netter Kerl, dachte sie und fischte im Weiterlaufen ihren Wohnungsschlüssel aus der Tasche ihrer Jogginghose.
30
Kaum hatte Lena die Tür zu ihrer Wohnung hinter sich geschlossen, breitete sie die Zeitung neben der Brötchentüte auf dem Küchentisch aus und überflog hastig den Artikel.
»Die Tote wurde in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag gegen 0.20 Uhr in den Niedermoorwiesen am Tegeler Fließ, am nördlichen Stadtrand Berlins, gefunden. Eine Gruppe Jugendlicher hatte den bis zur Unkenntlichkeit verwesten Leichnam während einer Nachtwanderung durch das Naturschutzgebiet im Moor entdeckt. Ersten Angaben zufolge hat die Tote schon mehrere Wochen im Moor gelegen. Ob es sich bei der schätzungsweise dreißig Jahre alten Frau um die seit vier Wochen vermisste Suzanna W. handelt, ist bislang unklar.«
Lena setzte Kaffee auf, während sie sich fragte, weshalb mit keiner Zeile erwähnt worden war, welche Art der Verstümmelung dem Opfer diesmal angetan worden war. Und ob es Zufall sein konnte, dass diese Frau erst so spät gefunden worden war, die vorherigen Opfer hingegen nur wenige Tage oder gar Stunden nach Eintritt des Todes.
Während der Kaffee durchlief, betrachtete Lena das grobkörnige Foto, das neben dem Artikel abgedruckt war und die vermisste Suzanna W. wenige Wochen vor ihrem Verschwinden zeigte. Warum kam ihr die Frau so bekannt vor? Nachdenklich sah Lena auf. Der Kaffee war durchgelaufen. Lena nahm eine Tasse aus dem Küchenschrank und goss sich den brühend heißen Kaffee ein. Wer auch immer hinter diesen Morden steckt – Volker Drescher und sein Team dürfen sich nun alleine damit herumschlagen , sagte sie sich und schlürfte ihren Kaffee, noch immer enttäuscht, dass ihr der Fall
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