Opfertod
entzogen worden war. Einzig das Bild dieser Suzanna W. wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie sah aus wie Suzanna, Suzanna Wirt. Konnte sie es tatsächlich sein?
Gedankenverloren tunkte Lena ein Buttercroissant in die schwarze Brühe, ging mit ihrer Tasse in der Hand ins Wohnzimmer und schüttelte über sich selbst den Kopf. Die Chance, dass es sich bei der Toten um Suzanna handelte, war doch nahezu verschwindend gering. Trotzdem wollte sie der Gedanke nicht loslassen. Mehr zu ihrer eigenen Beruhigung klappte Lena ihren Laptop auf dem Esstisch auf und gab »Suzanna W.« in die Suchmaschine ein.
»Suzanna Walde, Vorsitzende des Kegelclubs Dortmund … Suzanna Wartenberg, Medienberaterin, Kaiserslautern … Facebook-Profil von Suzanna Weinert … Suzanna Winnersbach, Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Köln …« Lenas Blick verharrte. »Suzanna Wirt, Dipl.-Bürokauffrau, Cenrat Media GmbH, Berlin.« Es war der Name ihrer besten Freundin aus Schulzeiten. Damals waren sie unzertrennlich gewesen, doch nachdem Suzanna mit ihren Eltern nach Berlin gezogen war, hatten sie den Kontakt verloren. Lena stellte ihre Kaffeetasse ab. Wahrscheinlich gab es in dieser Stadt etliche Suzanna Wirts, überlegte Lena. Trotzdem klickte sie sich durch die Website von Cenrat Media, in der Hoffnung, dort ein Foto der Mitarbeiterin zu finden. Ohne Erfolg. Angestachelt von ihrer fixen Idee, verbrachte Lena auf der Suche nach weiteren Anhaltspunkten Stunde um Stunde vor ihrem Laptop. Doch ihre Recherchen verliefen ergebnislos. Als sie den Laptop wieder zuklappte, war es bereits früher Nachmittag. Lena nahm eine Dusche und stand wenig später in Jeans und olivfarbenem Tanktop vor dem Kühlschrank, der lediglich eine angebrochene Dose Ravioli zu bieten hatte. Seufzend ließ sie die Kühlschranktür zufallen und drehte sich nach ihrem Kater um, der miauend in die Küche kam. »Napoleon – dich habe ich ganz vergessen, was?« Sie nahm eine Packung Katzenfutter aus dem Schrank, schüttete etwas davon in seinen Napf und stellte es ihm zusammen mit einer Schale Wasser hin. Der Kater fiel sogleich gierig über das Futter her. Lächelnd streichelte Lena ihm das scheckige Fell, und ihr Blick verharrte einen Moment lang auf dem Kater, ehe sie plötzlich aufsah. »Aber natürlich!«
Maunzend schaute der Kater von seinem Futter auf.
»Ich habe doch ein Foto von ihr«, sagte Lena, als könne das Tier sie verstehen. Sie nahm eine Schere aus der Besteckschublade, eilte zurück ins Wohnzimmer und machte sich rasch über die Umzugskiste her, die mit der Aufschrift »Alte Fotoalben und Erinnerungen« versehen war. Es war jene Kiste, in der sie die wenigen Hinweise auf ihre Vergangenheit verstaut hatte. Lena durchsuchte sämtliche Schuhkartons, als ihr, tief vergraben zwischen vergilbten Liebesbriefen und zerfledderten Poesiealben aus einem anderen Leben, ein Foto ihrer Zwillingsschwester Tamara in die Hände fiel. Obwohl seit Jahren Funkstille zwischen ihnen herrschte, hatte Lena Tamara kürzlich ihre neue Adresse in Berlin auf die Mailbox gesprochen. Erwartungsgemäß hatte Tamara bis heute nicht zurückgerufen. Sie war kaum anderthalb Minuten jünger als Lena und nach dem Tod der Eltern zunehmend auf die schiefe Bahn geraten. Drogen und Alkohol hatten schon früh Tamaras Leben dominiert, hinzu waren falsche Freunde gekommen. Die überforderten Pflegeeltern hatten sie in ein Internat für schwererziehbare Jugendliche gesteckt, was sich als fataler Fehler erweisen sollte, denn dort hatte das eigentliche Übel erst seinen Lauf genommen. Und später war sie immer wieder an den falschen Mann geraten. Noch einmal schossen Lena die Bilder jenes schrecklichen Szenarios durch den Kopf, das sich damals in Tamaras Wohnung abgespielt hatte. Lena hatte nur helfen wollen und nicht geahnt, dass dieser Tag nicht ohne Folgen bleiben und ihr Leben für immer verändern sollte. Lena schüttelte den Kopf und wollte nicht mehr daran denken. Obwohl sie sich inzwischen damit abgefunden hatte, dass es das Beste war, dass sie keinen Kontakt mehr hatten, versetzte ihr der Anblick ihrer Zwillingsschwester noch immer einen Stich ins Herz. Sie zwang sich, den Gedanken beiseitezuschieben, und durchwühlte weiter die Kiste. Zeugnisse. Fotos, die sie bei der Einschulung mit einer Schultüte im Arm vor dem alten Schulgebäude zeigten. Oder auf einer Klassenfahrt. Erinnerungen kamen in ihr hoch. Lena legte die Fotos beiseite und kramte weiter, ehe sie schließlich fand, wonach sie
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