Opferzahl: Kriminalroman
Alexanderplatz zum Fernsehturm hinauf, streiften über die Museumsinsel, besuchten die Delikatessenabteilung des KaDeWe und tranken ein Glas Champagner.
Jorge hatte sich ziemlich früh zurückgezogen. Er war immer noch angeschlagen, Paul sah, was mit ihm los war: Sein Gewissen fraß ihn auf. Er brauchte eine Auszeit, das war klar, ein bisschen Ferien zusammen mit Sara. Paul und Kerstin blieben noch in der nach Zigarren stinkenden Bar im Savoy Hotel in der Fasanenstraße sitzen, dem klassischen Hotel, in dem Hemingway während seiner Berliner Zeit gewohnt hatte. Sie sprachen nicht viel miteinander, sie waren ziemlich müde. Und sie hatten einen schweren Tag vor sich.
Aber als Paul sich über den Tisch beugte und in Kerstins dunkle Augen blickte, war das Leben einfach ganz gut.
Er blieb eine Weile daran hängen, an diesem Blick. An allem, was der Blick sagte. Und an allem, was er nicht sagte. Er blieb so lange an ihm hängen, dass er den Knall gleichsam gar nicht hörte. Das war eine Zeitverschwendung. Der Knall kam eher wie ein Nachhall, ein Echo. Und mit sich zog er eine ganze Außenwelt von bösem, plötzlichem Tod.
Es war kein lauter Knall, aber es war eine Explosion, und sie kam von einem Abfallbehälter ein Stück weiter oberhalb in der Ebertstraße, auf halbem Wege zu Kerstin Holm. Der Abfallbehälter verstärkte das Geräusch, und Hjelm sah, wie die Essensreste, Zeitungsfetzen, Eispapier und Cola-Dosen in die Luft geschleudert wurden. Es erinnerte an die Chinaböller der Kindheit. Der Abfallbehälter selbst schien nicht einmal beschädigt zu sein.
Die Menschen schrien, zogen sich zurück, alarmbereite Polizisten liefen herbei, Waffen wurden gezogen. Alle Konzentration war für ein paar Sekunden auf den Abfallbehälter gerichtet. Und nur, weil Paul Hjelm so zerstreut war, so erfüllt von anderem, so außerhalb der Zeit, war seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung gelenkt. Er sah, wie ein Schatten fast unmerklich unter einem der Schlagbäume hindurch in das Monument huschte, zwischen die Betonstelen. Hjelms Bewusstsein brauchte noch ein paar Sekunden, um das Bild des Schattens zu realisieren.
Das Gesicht des Mannes, den er in das Monument huschen sah, war kein anderes als das von Ata.
Und wenn ihm nicht sofort jemand folgte, würde er dort im Innern der zweitausendundsiebenhundert Betonblöcke verschwinden. Auf irgendeiner der zweitausendundsiebenhundert Wegkreuzungen.
Er sprach in das Walkie-Talkie, das aber so tot schien wie zuvor. Dann sah er zur Ebertstraße hinauf, und es gelang ihm, Kerstin auf sich aufmerksam zu machen. Er zeigte in das Innere des Monuments. Sie hob die Arme als Zeichen, dass sie nicht verstand.
Und da warf er sich hinein.
Es war, als käme man in ein anderes Universum. Das Geschrei von der Straße war wie verschluckt, die Stille unglaublich deutlich. In alle Richtungen erstreckten sich gerade Säulengänge, wölbten sich nach oben und unten. Der Boden war leicht gewellt, kleinere Hügel auf und ab, aber die Gänge, die unendliche Korridore bildeten, waren schnurgerade. Am Ende eines jeden Korridors konnte man die Menschenmenge draußen zwar ahnen, aber das war eine andere Welt. Eine völlig wesensverschiedene Welt.
Hier drinnen war kein Mensch. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas war menschenleer.
Hjelm zog die geliehene Dienstwaffe und stemmte sich mit dem Rücken gegen eine der enormen Stelen. Er überlegte. Versuchte, rationale Gedanken zu produzieren.
Was geschah da? Warum ging Ata in das Denkmal hinein? In das Monument? Hier war nichts, keine Türen, Öffnungen, keine Auswege. Vielleicht suchte er nur eine Stelle mit freier Annäherungsmöglichkeit an das Botschaftsgebäude.
Um mit der Bombe so nahe wie möglich heranzukommen.
Mit der Bombe, die er vermutlich an seinem Körper trug.
Hjelm wagte nicht mehr ins Walkie-Talkie zu sprechen, es hätte ihn verraten können. Entweder hatten sie ihn gehört oder nicht, mehr war da nicht zu machen. Die Kopfhörer waren betäubend stumm.
Er glitt mit dem Rücken an der glatt geschliffenen Betonoberfläche entlang und erreichte die Kante des Blocks. Er schaute um die Ecke. Nur ein langer Säulengang in beide Richtungen.
Kein Mensch.
So geräuschlos wie möglich lief er einige Blöcke vor und schaute erneut um die Ecke. Nichts, in keiner Richtung, nur diese schnurgeraden Korridore, identisch und doch nicht identisch.
Irgendwo dort drinnen war Ata. Er konnte ihm jeden Moment Auge in Auge
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