Opferzahl: Kriminalroman
man sich an die einzelnen Abteilungen wenden.«
»Gibt es eine andere Person, mit der wir sprechen können?«, fragte Kerstin Holm.
Wie auf Befehl (aber wahrscheinlich eher auf ein Klingelsignal der Empfangsdame hin) erschien ein Mann mit strenger Miene und einem Anzug, der einer Uniform zum Verwechseln ähnlich sah.
»Kann ich irgendwie behilflich sein?«, fragte er barsch.
Vermutlich war er ein ehemaliger Polizist.
»Das wäre zur Abwechslung mal nett«, sagte Gunnar Nyberg.
Der Mann starrte ihn an und schien ihn zu taxieren. Das Ergebnis der Musterung war offenbar nicht ganz eindeutig. Vermutlich verlor er bei der Konfrontation mit Nybergs Körperfülle ein wenig den Faden. Stattdessen wandte er sich Kerstin Holm zu, die sagte:
»Wir suchen einfach nur eine Frau, die sich gestern Nacht irgendwann nach ein Uhr wegen ziemlich schwerer Quetsch-, Schnitt- und vielleicht auch Brandwunden behandeln lassen wollte.«
Der Uniformierte sah sie eine Weile an und verschwand dann ohne ein Wort.
Vier Minuten später (vier Minuten und drei Sekunden später, um genau zu sein, wie Gunnar Nyberg feststellen konnte) kam der Mann zurück und sagte:
»Tut mir leid.«
Und dann verschwand er wieder.
Stattdessen kam Jorge Chavez. Gunnar Nyberg betrachtete ihn skeptisch. So schnell konnte kein Mensch Auto fahren.
»Ich hatte Glück«, sagte Chavez, an ihn gewandt. »Ein Polizeikommando hat einen Betrunkenen hergebracht, der eine Messerstecherei hatte.«
»Glückspilz«, sagte Gunnar Nyberg.
Chavez betrachtete ihn seinerseits.
»Schlechter Tag?«, fragte er freundlich.
»Kein wirklich produktiver Tag«, sagte Kerstin Holm diplomatisch.
Aber Gunnar Nyberg war nicht bei Laune. Er sah sich mürrisch ein Plakat an, auf dem unterschiedliche Behandlungsformen beschrieben waren, und schien insgesamt abwesend zu sein.
»Wir suchen nach einer Frau, die sich offenbar in Nichts aufgelöst hat. Sie muss zehn bis fünfzehn Meter von der Explosion entfernt gewesen sein, die zehn Menschen das Fleisch von den Knochen gerissen hat. Also muss sie selbst ziemlich schwer verletzt sein.«
»Ich habe euren Bericht im Intranet überflogen«, nickte Chavez, »und denke Folgendes: Wir haben immer mehr Probleme mit psychischen Krankheiten. Die Pflegereform vor ein paar Jahren hat dazu geführt, dass psychisch verwirrte Personen als Obdachlose in den Straßen umherirren. Die Hälfte der Menschen, die sich bei den Parkbänken versammeln, braucht heute eher psychiatrische Behandlung, als dass sie drogenabhängig ist. Also ist es wahrscheinlich, dass eure verrückte Frau mit schweren Verletzungen jetzt unter irgendeiner Brücke liegt und vor sich hinstirbt. Verwirrt.«
Kerstin Holm sah zu Gunnar Nyberg hinüber, der immer noch das Plakat studierte.
»Ich weiß«, sagte sie. »Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie schwer verletzt und hilflos ist.«
»Und im Sterben liegt«, fügte Chavez hinzu.
»Trotzdem müssen wir es versuchen«, sagte Kerstin Holm. »Wir stehen auch nicht allein da, eine Menge Polizisten sind damit befasst. Keiner hat etwas gefunden.«
»Und wir müssen auch einen Versuch machen, oder?«, meinte Chavez. »Ich brauche Bengt wirklich.«
Kerstin sah skeptisch aus, als sie sagte:
»Ja, einen Versuch machen wir. Aber erwarten darfst du nichts.«
»Was tust du normalerweise, wenn du dort bist?«
»Was macht man mit einem Menschen, der daliegt wie ein Gemüse? Man erzählt, was los ist und was seit dem letzten Mal passiert ist. Gestern haben wir uns Jan-Olov Hultins erste Pressekonferenz angesehen.«
»>Wir«
»Ich habe sie mir angesehen, Bengt - war Bengt.«
»Was sagen die Ärzte?«
»Er hat allem Anschein nach keinen Hirnschaden. Er atmet selbstständig. Er könnte jederzeit aufwachen. Aber das höre ich jetzt seit einem Jahr. >Jederzeit< ist zu einem sehr merkwürdigen Zeitraum geworden.«
Bengt Äkesson lag in einem Saal, der einen langen Spaziergang weit entfernt war. Bis sie bei ihm ankamen, sagte keiner ein Wort. Nyberg wirkte ungewöhnlich bockig, fand Chavez.
Sie gingen in Äkessons Zimmer. Er teilte es mit drei anderen in ungefähr der gleichen Verfassung. Von zwei der Betten war ein Pusten und Schnaufen zu hören, das sie alle drei bei verschiedenen Gelegenheiten in ihrem Leben mit Beatmungsgeräten zu verbinden gelernt hatten.
Aber nicht an Äkessons Bett. Dort herrschte eine seltsame Todesruhe. Über ein Jahr ohne Bewusstsein - was macht das eigentlich mit einem
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