Opferzahl: Kriminalroman
Und dann schickte er die ganze Filmsequenz per E-Mail an Chefkriminaltechniker Brynolf Svenhagen mit den Worten:
»Lieber Brunte. Kann man aus diesem Film noch etwas rausholen? Wir interessieren uns besonders für den jungen Mann, der exakt um 17.13.24 Uhr das Gesicht zur Kamera wendet. Es bedankt sich dein von Herzen geliebter Schwiegersohn.«
Dann nahm er das Telefon und wählte eine Nummer. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang ein wenig gestresst:
»Ja, hier ist Kerstin.«
»Hier nicht. Hier ist Jorge. Hat Bengt jemals mit dir über einen Fall gesprochen, der mit gestohlenen Handys zu tun hatte?«
»Bengt?«, sagte Kerstin erstaunt. »Bengt Äkesson?«
»Ja. Er war im vorigen Sommer mit einem Fall befasst, unmittelbar bevor er mit Paul zusammenarbeitete. Aber hat er mal eine Bande erwähnt, die mit Handys zu tun hatte?«
»Nicht, soweit ich mich erinnere. Wir haben nicht oft über die Arbeit gesprochen. Wir hatten ja gar nicht die Zeit, viel miteinander zu sprechen.«
Erst jetzt merkte Chavez, der generell dazu tendierte, im Eifer des Gefechts ein wenig betriebsblind zu werden, dass er möglicherweise auf ein paar wunden Zehen herumtrampelte.
»Entschuldige, wenn ich rücksichtslos bin«, sagte er. »Aber der Fall, mit dem Bengt beschäftigt war, bevor ... ja, bevor er angeschossen wurde, der ist unmittelbar relevant für den Fall Carl Jonas.«
»Wegen des Handys?«
»Ja. Bengt Äkesson weiß mit Sicherheit, wer den heiligen Reitern von Siffin das Telefon geliefert hat.«
»Aber er liegt im Koma.«
»Ich weiß.«
»Ich bin über ein halbes Jahr lang so oft dort gewesen, wie ich konnte, und habe keinen Kontakt mit ihm bekommen. Kein einziges Anzeichen, dass er bei Bewusstsein ist.«
»Nein, du hast natürlich recht. Ich hatte gedacht, wir könnten es zumindest versuchen. Aber das war dumm.«
»Es ist keine gute Idee«, sagte Kerstin Holm schwer. »Bei ihm funktioniert nichts. Seine Tochter ist auch ganz oft dagewesen. Und er hört noch nicht einmal sie.«
»Wir lassen es sein. Wir haben andere Fäden. Ein Stück Film.«
»Allerdings ...«
»Ja?«
»Allerdings bin ich schon hier ...«
»Hier?«
»Im Karolinska.«
»Was tust du da?«
»Ich suche eine Vermisste aus dem Wagen Carl Jonas. Allem Anschein nach hat sie die U-Bahn nach der Explosion verlassen.«
»Okay, ich schaue mir euren Bericht im Intranet an. Sie ist also im Tunnel abgesprungen?«
»Ja, sie hat die Türen mit einer Harke oder einem Handkultivator geöffnet.«
»Rede Schwedisch.«
»Sie scheint nicht hier zu sein. Aber das Aufnahmesystem hier ist offenbar sehr kompliziert, daher kann man es noch nicht mit absoluter Gewissheit sagen. Nach den Toten und diesem Plingby befand sie sich am nächsten an der Explosion, sie müsste also schwer verletzt sein. Aber in den Krankenhäusern können wir sie nicht finden.«
»Bingby«, sagte Chavez. »Andreas Bingby.«
»Bond«, sagte Holm. »James Bond.«
»Typ«, sagte Chavez und brach damit zum ersten Mal sein Neujahrs versprechen, nie im Leben »Typ« zu sagen.
»Wir untersuchen die Sache noch etwa zehn Minuten«, sagte Kerstin Holm. »Dann sehe ich dich hier. Beim Haupteingang.«
»Yes, Sir«, sagte Jorge Chavez, schlug die Hacken zusammen, drückte seine Chefin weg und setzte sich sofort in Bewegung.
Die Chefin erlaubte es sich, einige Sekunden lang das Handy anzusehen, ehe sie es wieder in die Handtasche steckte. Sobald eine Frau eine Anweisung erteilt, wird sie zum »Sir«. Aber sie hatte im Moment keine Lust, daraus weitergehende feministische Schlussfolgerungen zu ziehen.
»Verflucht noch mal«, dröhnte ein Bass an ihrem linken Ohr.
»Tut mir leid«, sagte eine umso mildere Frauenstimme. »Das System erlaubt es nicht.«
»Darf ich Sie als Beispiel dafür zitieren«, sagte Gunnar Nyberg zu der armen Empfangsdame, »dass die Berliner Mauer noch steht?«
»Aber es ist nicht meine Schuld«, entgegnete die Frau in dem Glaskäfig. »Es ist das System.«
»Wissen Sie, wer das gesagt hat?«, brüllte Nyberg.
Kerstin Holm legte ihre Hand auf seinen Arm und stoppte damit den unbarmherzigen und vielleicht nicht ganz gerechten Ausbruch.
»Man darf mit anderen Worten schließen«, sagte sie diplomatisch, »dass Sie nicht endgültig sagen können, ob hier in der letzten Nacht eine Frau mit schweren Quetsch- und Schnittwunden eingeliefert worden ist?«
»Das ist korrekt«, sagte die Empfangsdame. »Nach meinen Instruktionen muss
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