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Opferzahl: Kriminalroman

Opferzahl: Kriminalroman

Titel: Opferzahl: Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Menschen? Gut war es jedenfalls nicht für ihn. Bengt Äkessons Gesicht war übersät mit Pusteln und Blasen, als hätte er es ein Jahr lang nicht gewaschen. Was in etwa den Tatsachen entsprach. Höchstens hin und wieder kam eine Helferin mit einem Schwamm vorbei, den sie bereits bei vier Patienten benutzt hatte, und wischte ihm übers Gesicht, ohne ihn anzusehen. Das jedenfalls vermutete Jorge Chavez.

    »Hej Bengt«, sagte Kerstin. »Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Aber ich mache es wie immer: Ich tue so, als ob du es könntest. Ich habe zwei deiner Kollegen mitgebracht. Sie sind zum ersten Mal hier, aber ich glaube, du weißt, wer sie sind. Jorge Chavez und Gunnar Nyberg. Sie waren mal Partner, aber das hat nicht geklappt.«

    Nyberg und Chavez tauschten zum ersten Mal bei dieser Begegnung Blicke aus. Chavez hob die Augenbrauen. Nyberg runzelte die Stirn. Aber sie sagten nichts.

    Kerstin Holm fuhr fort:

    »Sie sind hier, weil sie glauben, dass du sie verstehst.«

    Das Trio beobachtete den Mann im Bett. Es gab kein Anzeichen einer Reaktion. Nur eine Art von tiefem Schlaf. Etwas zwischen Schlaf und Tod. Aber ihre Aufmerksamkeit blieb konstant.

    »Jorge arbeitet an einem Fall, mit dem du befasst warst«, sagte Kerstin Holm. »Er will mit dir darüber sprechen. Er will sehen, woran du dich erinnerst.«

    »Ich brauche deine Hilfe«, sagte Chavez einfach.

    Sie beobachteten das anscheinend schlafende Gesicht genau. Es zeigte keine Spur einer menschlichen Reaktion.

    »Ich brauche deine professionelle Hilfe«, verdeutlichte Chavez. »Ich hoffe, du erinnerst dich an den Fall, an dem du gearbeitet hast, als auf dich geschossen wurde. Ich meine nicht den Fall zusammen mit Paul Hjelm, sondern den davor. An dem du ganz allein gearbeitet hast, wegen Personalmangels. Du weißt, wovon ich spreche, oder?«

    Nein, dachte Chavez und beobachtete die Totenmaske.

    Nein, zum Teufel, was mache ich? Das ist doch eine Leiche. Er atmet zwar, aber in allem Wesentlichen ist er der Inbegriff eines Hirntoten.

    Dennoch fuhr er fort:

    »Sie haben Handys gestohlen, daran erinnerst du dich. Smarte Kerle, die Handys klauen, die gerade gekauft worden sind, und sie weglegen, ohne sie zu benutzen. Sie passen auf, dass der Diebstahl nicht angezeigt und die Nummer nicht abgeschaltet wird, und dann beliefern sie sämtliche Ganoven im Süden der Stadt mit Handys, die man nicht orten kann.«

    Nein.

    Nein, es geschah natürlich nichts.

    Natürlich gab es keine Bewegung. Es wäre falsch, das zu glauben. Absurd.

    »Habt ihr das gesehen?«, sagte plötzlich Gunnar Nyberg, der aus seiner Starre erwacht war.

    Ja, dachte Chavez. Da ich nicht der Einzige bin, der es gesehen hat, habe ich es wirklich gesehen. Nicht nur, weil ich es sehen wollte.

    Aber er sagte nichts.

    Kerstin Holm sagte etwas:

    »Nein, ich habe nichts gesehen.«

    »Doch«, sagte Nyberg und ging ein paar Schritte näher an das Bett. »Doch, das war wie REM-Schlaf.«

    »Er träumt vielleicht«, sagte Chavez zögernd.

    »Mir kam es nicht so vor«, beharrte Nyberg. »Ich hatte den Eindruck, er reagiert direkt auf das, was du gesagt hast.«

    Chavez nahm Äkessons Hand und sagte mit großer Deutlichkeit:

    »Bewege die Augen, wenn du mich hörst, Bengt.« Doch.

    Doch, gewiss war da eine kleine Bewegung. Wie ein minimaler Ausschnitt von REM-Schlaf, Rapid Eye Movement, dem Schlafstadium, wenn sich die Augen schnell nach verschiedenen Seiten bewegen und der ganze Körper paralysiert ist, außer dem lebenserhaltenden System und den Augen. Man kann deutlich sehen, wo sich unter dem geschlossenen Lid die Pupille befindet.

    Was ein Schock ist, weiß jeder. Ein physischer Schock. Es reicht schon, sich kräftig den Kopf zu stoßen, sich zu schneiden oder sich an heißem Wasser zu verbrennen - mit dem Körper geschieht etwas, das sich mit der Verletzung nicht direkt in Verbindung bringen lässt. Eine Art von Fieberschauer, ein abrupter Schweißausbruch, Beine, die fast nachgeben.

    Kerstin Holm hätte das Gefühl, das sie in diesem Augenblick überkam, im Nachhinein am ehesten mit den Sekunden nach einem solchen Schock verglichen. Man hackt Zwiebeln und fühlt, wie das Messer plötzlich auf unangenehm weiche Art in den Finger dringt. Man fasst sich an den Finger und wagt nicht hinzusehen, noch nicht, man ahnt nicht, wie schlimm es ist. In diesem Augenblick geht jene Welle durch den Körper.

    Genau so fühlte sich Kerstin Holm in dem Moment, als ihr klar wurde, wie lange Bengt

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