Ophran 3 Die entflohene Braut
Dämmerlicht. Als Amelias Blick auf die gepackten Koffer in der Ecke des Raumes fiel, überkam die junge Frau ein Gefühl erdrückender Traurigkeit.
Das leise Klicken der Haustür verriet ihr, dass Jack endlich heimgekehrt war. Sie schaute zur Uhr auf dem Kaminsims und sah, dass es fast drei Uhr morgens war. Die späte Stunde erstaunte Amelia. Seit er Alex und sie zu sich eingeladen hatte, war Jack stets bemüht gewesen, abends zeitig nach
Hause zu kommen. So konnte er mit allen zu Abend essen und sich danach Alex und ihr widmen, bevor sie zu Bett gingen.
Getreu seinem Versprechen hatte Jack versucht, dafür zu sorgen, dass die kleine Diebin, die Amelia in sein Haus gebracht hatte, sich willkommen und geborgen fühlte. Er hatte sich sogar bereit erklärt, Alex das Rechnen beizubringen. Das arme Mädchen hatte Amelias Versuche, es die Buchstaben des Alphabets zu lehren, missmutig über sich ergehen lassen und machte nur langsame Fortschritte im Lesen und Schreiben. Doch wenn es um Zahlen ging, gelang es Jack stets, sie bei Laune zu halten. Oliver und er zogen zu diesem Zweck für gewöhnlich weite Mäntel an, deren Taschen mit allerlei Schätzen gefüllt waren, und schlenderten dann pfeifend im Wohnzimmer auf und ab, während Alex ihnen geschickt die Manteltaschen leerte. Zum Schluss musste sie alle Dinge zählen, die sie ihnen stibitzt hatte und die daraufhin zurück in die Taschen gesteckt wurden. Dann zog Alex den Mantel an, und Oliver und Jack stahlen die Dinge zurück, wobei sie Alex jedes Mal fragten, wie viele Sachen sie noch übrig hatte, während sie ihr die Gegenstände zeigten, die sie ihr entwendet hatten.
Amelia war zwar nicht wirklich überzeugt davon, dass gespielter Taschendiebstahl eine geeignete Methode war, einem Kind die Grundlagen des Addierens und Subtrahierens beizubringen, doch es war offensichtlich, dass Alex großen Spaß an dem Spiel hatte. Jedenfalls machte sie viel raschere Fortschritte im Rechnen als im Lesen und Schreiben. Auch ihr Geschick im Taschendiebstahl wuchs, worüber Oliver sich besonders zu freuen schien.
Amelia strich ihr Kleid glatt und eilte zur Tür. Sie wollte unbedingt mit Jack sprechen, ehe er in der kleinen Schlafkammer am Ende des Korridors verschwand. Da Alex im Gästezimmer untergebracht war und Amelia noch immer in Jacks Zimmer logierte, hatten Eunice und Doreen darauf bestanden, einen anderen Schlafraum herzurichten, damit Jack nicht länger auf dem Sofa im Wohnzimmer nächtigen musste. Daraufhin war ein zuvor als Abstellkammer genutzter Raum gesäubert und mit einem schlichten Bett und einem Kleiderschrank ausgestattet worden. Amelia plagten Gewissensbisse, weil sie Jack aus seinem hübsch möblierten Schlafzimmer vertrieben hatte, doch er versicherte ihr, dass ihm seine Umgebung völlig gleichgültig sei.
Sie spähte in den Flur hinaus.
„Ist etwas nicht in Ordnung? “ fragte Jack, sobald er sie entdeckte.
Sein Blick war fest, sein Gesichtsausdruck ernst. Offenbar hatte er keinen einzigen Tropfen Alkohol getrunken. Er stand nur wenige Handbreit von ihr entfernt, und seine überwältigende Ausstrahlung lud die Dunkelheit um sie herum mit Wärme und Kraft auf. Amelia fühlte sich mit einem Mal klein und verlassen. Tränen stiegen ihr in die Augen, während die ruhige Fassade, die sie den ganzen Tag lang irgendwie hatte aufrechterhalten können, zu bröckeln begann.
Amelias silbrige Tränen rührten Jacks Herz. Er vergaß seinen Schwur, sie nie wieder anzurühren, breitete die Arme aus und zog Amelia schützend an sich. „Was ist geschehen, Amelia? “
„Meine Mutter liegt im Sterben“, schluchzte sie, das Gesicht an seine Brust geschmiegt. „Sie stirbt, und es ist alles meine Schuld! “
„Woher weißt du, dass sie im Sterben liegt? “ fragte er ruhig. „Und wie könnte es deine Schuld sein? “
Sie löste sich zögernd aus seiner Umarmung, um die zerflederte Zeitung zu holen, die auf dem Bett verteilt lag. „Ich habe mit Eunice und Doreen die Tageszeitung gelesen, denn es amüsiert die beiden, von all den Orten zu hören, an denen ich angeblich gewesen sein soll, und sogar Alex findet es lustig, jetzt, wo wir ihr gesagt haben, wer ich wirklich bin. Plötzlich fiel mein Blick auf diese Schlagzeile:, Gattin des amerikanischen Eisenbahnmagnaten todkrank. “ Sie hielt die Zeitung nahe an die Lampe und las vor: „, Nach einem Herzanfall, der dem Vernehmen nach durch das Trauma verursacht wurde, welches das kürzliche Verschwinden ihrer einzigen
Weitere Kostenlose Bücher