Ophran 3 Die entflohene Braut
Sie hatte seinem Urgroßvater gehört und zeigte zwei kleine, von Diamanten umrandete blaue Emaillevögel auf dem polierten Deckel. Er öffnete sie, sah auf das Zifferblatt und runzelte die Stirn. Sieben Minuten nach neun. Verärgert zwirbelte er die Spitzen seines sorgfältig gewachsten Schnurrbarts, klappte die Uhr zu und ließ sie zurück in ihr satingefüttertes Etui gleiten.
Amerikanische Erbinnen, das hatte er mittlerweile erkannt, waren selten pünktlich.
Auf Edith Fanshaw traf dies natürlich nicht zu. Ihr Vergehen war, dass sie stets ungebührlich früh erschien, da ihre Eltern fälschlicherweise annahmen, es sei wichtig für ihre Tochter, während der gesamten Dauer jedes gesellschaftlichen Ereignisses gesehen zu werden, für das sie eine Einladung hatten erhaschen können. Dieses unglückliche Missverständnis hatte dazu geführt, dass die entsetzlich schüchterne Edith der englischen Gesellschaft bis zum Überdruss vorgeführt worden war. Wären sie klug gewesen, hätten ihre Eltern dafür gesorgt, dass sie spät erschien, früh ging und nie den Mund aufmachte, um sich wenigstens den Hauch eines Geheimnisses zu wahren.
Leider sah Percys zukünftige Braut immer hoffnungslos jämmerlich drein, gerade so wie ein Kaninchen in der Fälle. Versuchte man, sie in ein Gespräch zu verwickeln, legte sich ein Ausdruck verzweifelten Entsetzens auf ihr Gesicht, der befürchten ließ, sie würde im nächsten Augenblick in Ohnmacht fallen. Durch ihr furchtsames Wesen war sie zu lange auf dem Heiratsmarkt gewesen, ohne einen einzigen Antrag erhalten zu haben, das Ende für eine Frau, die sich Hoffnungen auf einen Marquess oder mehr gemacht hatte. Zu dem Zeitpunkt, als Percys finanzielle Lage so heikel geworden war, dass er seinen Stolz hinunterschlucken und bei Ediths Vater um ihre Hand anhalten musste, waren ihre Eltern widerstrebend zu dem Schluss gekommen, dass ihnen keine andere Wahl blieb, als ihre Erwartungen hinsichtlich ihres künftigen Schwiegersohns zurückzuschrauben. Angesichts ihres Mangels an Schönheit, Charme und Witz, ihrer Unbeholfenheit bei gesellschaftlichen Auftritten und des Fehlens eines gewaltigen Vermögens, das ihre sonst eher unbedeutende Herkunft vergoldet hätte, konnte Edith Fanshaw sich glücklich schätzen, dass er um ihre zittrige kleine Hand angehalten hatte.
Natürlich ließ sich das Vermögen der Fanshaws nicht mit dem riesigen Eisenbahn-Imperium von John Henry Belford messen, doch zu jenem Zeitpunkt hatte Percy keine Wahl gehabt. Seine Schulden waren in Schwindel erregende Höhen gestiegen, und die Anteile an der „Great Atlantic Steam-ship“, die er für viel Geld erworben hatte, um sich vor dem finanziellen Ruin zu retten, hatten bereits ein Drittel ihres Wertes verloren. Er und einige andere Investoren hatten Schritte unternommen, um dagegen anzugehen, doch es konnte Monate dauern, bis sich die Kurse wieder erholten, und Zeit war ein Luxus, über den Percy nicht länger verfügte.
Und dann war da noch die unerfreuliche Angelegenheit mit Dick Hawkins.
Der junge Kerl war nur zu gern bereit gewesen, einige Tage lang das Bett mit ihm zu teilen. Doch Percy hatte ihn zu gekonnt verführt, denn der Lump hatte nicht nur Gefallen an ihrem groben Liebesspiel gefunden, sondern auch an den edlen Weinen und der kostspieligen Ausstaffierung, die damit einhergingen. Der Schuft hatte geschworen, ihm die Beine zu brechen und seinen adligen Freunden jede anrüchige Einzelheit ihrer Affäre zu offenbaren, falls Percy ihm nicht einen großzügigen monatlichen Unterhalt zahlte. Diese Notlage hatte ihn dazu gebracht, Amelia Belford den Hof zu machen, die seinem Charme rasch erlegen war... bis ihre Eltern einschritten und seinem Werben ein Ende bereiteten. Danach war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich Edith Fanshaw zuzuwenden, überzeugt davon, dass man ihm den Schlüssel zur Belfordschen Schatztruhe endgültig entrissen hatte.
Offenbar habe ich mich getäuscht, dachte er und strich sich bedächtig mit dem Fingerknöchel über den Schnurrbart.
„Champagner, Mylord? “
Ein runzliger alter Diener tauchte mit einem riesigen Silbertablett voller Champagnergläser neben ihm auf. Er hatte einen zotteligen weißen Schopf, borstige weiße Brauen und einen schlecht gestutzten Bart, der einen großen Teil seines bleichen Gesichts verdeckte. Seine dunkle Livree war verschlissen und lächerlich kurz für seine gebeugte Gestalt, was vermuten ließ, dass sie ursprünglich für jemand anders
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