Ophran 3 Die entflohene Braut
Himmel! “ Der Mann sah aus, als würde er im nächsten Augenblick in Ohnmacht fallen, und ließ den schmutzigen Mantelkragen des Jungen los. „Du verfluchter kleiner... “
Der Bengel war längst wieder auf und davon und wich geschickt den ausgestreckten Händen der anderen Passanten aus, die nur noch halbherzig versuchten, seiner habhaft zu werden. Amelia beobachtete niedergeschmettert, wie der Bursche eine schmale Gasse hinablief. Sie würde ihn niemals einholen können, erkannte sie. All ihre wertvollen Aufzeichnungen waren verloren - und mit ihnen Stunden harter Arbeit, die sie nun aufs Neue würde leisten müssen.
Ein Wutschrei gellte durch die Gasse, gefolgt von einem Schwall übler Flüche in kindlichem Tonfall. Amelia hoffte inständig, dass dieser Häscher sich besser als der Erste zu schützen verstand, und nahm ihren Lauf wieder auf. Von ihrem engen Korsett behindert, rannte sie schwer atmend die schmale Straße hinab und bog dann um die Ecke.
„Lass mich los, du stinkender alter Mistkerl! “ fluchte der kleine Dieb und schlug dabei wild um sich.
Er drehte und wand sich im verzweifelten Versuch, einen Treffer zu landen, doch Oliver gab ihm keine Gelegenheit dazu. Mit einer schwieligen Hand hielt er den Jungen am zerzausten Schopf gepackt, mit der anderen drückte er ihm den Arm hinter den Rücken.
„Du kannst dir dein Gezappel getrost sparen, denn ich werde dich erst loslassen, wenn du der Dame ihr Retikül wiedergegeben und dich bei ihr entschuldigt hast“, erklärte Oliver streng. „Ich bringe dich nicht zur Polizei, verstanden? “
„Dreckiger Lügner! “
„Ich möchte wirklich nur meine Handtasche zurückhaben“, versicherte Amelia. „Sie ist dir ohnehin nicht von Nutzen. Es ist weder Geld noch Schmuck darin, noch sonst irgendetwas Wertvolles. “
Der Junge ließ plötzlich von seinen Befreiungsversuchen ab und warf Amelia einen entrüsteten Blick zu. „Ehrlich nicht? “
„Ich fürchte, nein. “
Er wirkte zutiefst verärgert, so, als habe Amelia ihm seine Zeit gestohlen. „Na schön“, gab er nach und starrte Oliver feindselig an. „Lass mich los, du altes Klappergestell, damit ich sie aus meinem Mantel holen kann. “
„Ich hole sie“, entgegnete Oliver, der schlau genug war, dem kleinen Halunken nicht zu trauen. Er ließ den Schopf des Jungen los, ohne jedoch den Griff um seinen dünnen Arm zu lockern. „Und wenn du versuchst, mich zu treten, werde ich dir so gehörig den Hintern versohlen, dass du eine Woche lang nicht sitzen kannst, das verspreche ich dir! “ Mit diesen Worten langte Oliver in den Mantel des Knaben und zog das Retikül aus seinem Versteck.
„Hier! “ Er überreichte Amelia die aus Samt und Seide gefertigte Tasche. „Und nun entschuldigst du dich bei der Dame! “
Der Junge schnaubte verächtlich. „Warum? Sie hat wahrscheinlich Hunderte von diesen Dingern zu Hause. Sie hätte die Tasche bestimmt nicht vermisst. “
„Entschuldige dich, du kleiner Rüpel, ehe ich es mir anders überlege und dich der Polizei übergebe! “
Der Bengel setzte eine finstere Miene auf, doch es war offensichtlich, dass Olivers Drohung eine gewisse Wirkung zeigte. Er richtete seinen feindseligen Blick auf Amelia. „’tschuldigung“, stieß er mit vor Verachtung triefender Stimme hervor.
„Wer sagt’s denn! War das wirklich so schwer? Ihr jungen Diebe von heute habt weder Ehr- noch Taktgefühl“, klagte Oliver, die Faust noch immer um das Handgelenk des Missetäters geschlossen. „Also, als ich in deinem Alter war... “ „Wenn wir fertig sind, geh ich jetzt“, fiel ihm der Junge barsch ins Wort.
„Wohin gehst du? “ fragte Amelia, als Oliver ihn widerstrebend freigab.
Der Knabe schaute sie mit unverhohlener Feindseligkeit an. „Warum wollen Sie das wissen? Damit Sie mir die Polizei auf den Hals hetzen können, sobald Sie wieder in Ihrer schicken Kutsche sitzen? “
Die Verachtung, die aus seinen Worten sprach, war so heftig, dass Amelia erschrak. Die Augen des Jungen waren von einem dunklen, klaren Grün und das Einzige an ihm, das nicht von einer dicken Schmutzschicht überzogen war. Sind Jack und seine Geschwister so gewesen, als Genevieve sie aus dem Gefängnis gerettet hat, überlegte Amelia. Hatte ihr elendes Dasein sie so verzweifelt und verbittert werden lassen, dass sie augenblicklich jeden gehasst hatten, der mehr besaß als sie selbst?
„Ich habe mich nur gerade gefragt, ob du wohl Lust hättest, mich nach Hause zu begleiten und mit
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