Optimum 1
während Frau Jansen das Gitter zuzog. Sie bekam keine Antwort. Sie wartete ab, bis sich die Fahrstuhlkabine ruckelnd aufwärtsbewegte, dann wandte sie sich der breiten Treppe neben dem Schacht zu und machte sich an den Aufstieg.
Die Schule wirkte hier wie ausgestorben, die meisten Schüler waren jetzt wahrscheinlich beim Essen, oder der alte Teil der Schule war nur Lehrern und Betreuern vorbehalten.
Die Treppe bestand aus altem dunklem Holz, das mit irgendwas poliert worden war, das es noch älter riechen ließ. Ob man Holzpolitur extra mit diesem antiken Geruch ausstattete, um alles, was man damit behandelte, ehrwürdiger wirken zu lassen? Die Stufen quietschten leise unter Ricas Füßen, und das Geländer war so glatt und abgewetzt, als hätten Hunderte, wenn nicht Tausende von Händen es täglich immer wieder berührt. Wahrscheinlich bauen sie solche Treppen nur, um die Schüler einzuschüchtern, die hier zu ihren therapeutischen Sitzungen gehen müssen, dachte Rica, während sie eine Stufe nach der anderen emporstieg. Sie fühlte sich furchtbar erschöpft, als hätte sie gerade einen Marathonlauf hinter sich gebracht.
Bilder säumten den Treppenaufgang. Zuerst beachtete Rica sie gar nicht, es waren die üblichen Klassenfotos von vergangenen Jahrgängen dieser Schule. Doch als sie sich zum zweiten Stockwerk hochgearbeitet hatte, war die Monotonie des Treppensteigens so unerträglich geworden, dass sie beinah, ohne es zu merken, die Fotos zu studieren begann.
»Daniel-Nathans-Akademie, Abschlussjahrgang2005 , Abschlussjahrgang2004 , Abschlussjahrgang 2003 … « Lauter glückliche, perfekte Gesichter von jungen, adrett angezogenen Menschen. Menschen, die bestimmt Karriere machen würden. Menschen, die sich sicher waren, Erfolg im Leben zu haben. Menschen, denen ihr Leben lang alles hinterhergeworfen worden war, was sie sich erträumten.
»Abschlussjahrgang2002 , Abschlussjahrgang2001 , Abschlussjahrgang 2000 … « Rica hatte den dritten Stock erreicht. »Abschlussjahrgang1999 , 1998 … « Und dann, nachdem sie den Abschlussjahrgang 1994 erreicht hatte, veränderten sich die Fotos plötzlich. Zuerst konnte Rica nicht genau sagen, woran es eigentlich lag, aber irgendwie waren sie anders. Erst als sie stehen blieb, um sich die Fotos genauer anzusehen, bemerkte sie es: Die Bilder waren viel älter. Hatten die Kleider der Abschlussklasse von 1994 schon unmodisch gewirkt, so waren diese hier geradezu nostalgisch. Und die Frisuren der Schüler sahen aus, als entstammten sie einem Retrofilm. Rica kniff die Augen zusammen und beugte sich vor, um die Plakette unter einem der Fotos zu entziffern. Sie war viel kleiner und lange nicht so gut poliert wie die vorigen protzigen Schilder.
»Morgenstern-Schule, Abschlussjahrgang 1968.«
Rica blinzelte. 1968? Das war ja eine halbe Ewigkeit her. Wo waren die Jahrgänge zwischen 1968 und 1994 geblieben? Und der Name der Schule? Warum hatte man ihn geändert? Seltsam. Sicherheitshalber lief sie noch ein paar Stufen hinunter, bis sie wieder zu dem protzigen Foto mit den glücklichen, erfolgreichen Schülern von 1994 kam. Kein Zweifel. Fast dreißig Jahre lang hatte niemand in dieser Schule einen Abschluss gemacht.
Rica starrte auf das Foto von1968 , dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Was interessierte sie das eigentlich? Es konnte doch sein, dass diese Schule zwischendurch geschlossen gewesen war. Kein Geheimnis. Nichts Besonderes. Sie sollte sich besser beeilen, zum Büro von Frau Jansen zu kommen, bevor sie sich noch mehr Ärger einhandelte.
Rasch lief sie die Stufen der letzten zwei Stockwerke hoch. Oben angekommen fand sie sich in einem mit dicken Teppichen ausgelegten Gang wieder, der so gar nicht nach einer Schule aussah, mehr wie der Korridor in einem vornehmen Herrenhaus. Die Luft war erfüllt von Staub und ehrwürdiger Atmosphäre. Aus einem Fenster am Ende des Ganges fiel ein einzelner goldener Sonnenstrahl wie ein Finger, der auf etwas zeigte. Rica hätte es nicht gewundert, hier Gaslampen und in Häubchen und adrette Uniformen gekleidete Hausmädchen vorzufinden wie in einem viktorianischen Schloss.
Soll mich das einschüchtern? Wenn ja, dann funktionierte es erstaunlich gut. Ihr Herz schlug schneller, und wieder hatte sie den Eindruck, keine Luft mehr zu bekommen.
Rica presste die Lippen aufeinander und begann, den Gang entlangzugehen. Der dicke rote Teppich schluckte das Geräusch ihrer Schritte, und der Korridor war so verlassen, als befände
Weitere Kostenlose Bücher