Optimum 1
ihren Kopf mit Watte gefüllt zu haben, so verschwommen waren ihre Gedanken.
Frau Jansen beugte sich in ihrem Stuhl nach vorn und musterte Rica eindringlich. »Ich glaube, Ricarda, dass das Weggehen deines Vaters ein tief sitzendes Trauma bei dir ausgelöst hat. Deswegen bist du jetzt auch so aggressiv. Glaubst du, du musst den Mann in der Familie ersetzen und dich deswegen mit diesem Mädchen schlagen?«
»So ein Bullshit.« Rica musste sich zurückhalten, um nicht aufzuspringen und ihren Sessel umzuwerfen. »Ich will bestimmt kein Mann sein. Und schon gar nicht so wie mein Vater. Er ist ein Lügner und Betrüger und hat uns im Stich gelassen. Ganz sicher richte ich mich nicht nach seinem Vorbild.«
»Vielleicht konnte er gar nicht anders, als euch zu verlassen.« Frau Jansen lehnte sich jetzt zurück, ließ ihre Arme locker auf den Lehnen ihres Stuhls ruhen und sah aus irgendeinem Grund vollkommen zufrieden aus. Als hätte Rica ihr gerade etwas geliefert, auf das sie schon lange gewartet hatte.
»Wie kommen Sie darauf?« Rica runzelte die Stirn, lehnte sich ebenfalls zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie versuchte, ein Pokerface aufzusetzen, sich nichts anmerken zu lassen. Schon gar nicht, wie sehr die Worte der Psychologin sie aufgewühlt hatten. Wie oft hatte sie sich als Kind genau dieselbe Antwort zurechtgelegt. Nein, ihr Vater hatte natürlich gar nicht anders gekonnt. Wahrscheinlich war er ein Geheimagent, der seine Familie nicht in Gefahr bringen wollte. Oder er war der Sohn irgendeines Machthabers, der heimlich geheiratet hatte, und wollte sie nun vor den wütenden Leibwachen des nächsten Diktators schützen. Oder er war ein cooler Revoluzzer, der eingesehen hatte, dass die gute Sache nicht ohne ihn weiterlaufen würde. Ein richtiger Robin Hood war ihr Vater manchmal für sie gewesen. Wenn sie nicht gerade stocksauer auf ihn war. »Mein Vater war einfach nur einer dieser Bastarde, die plötzlich merken, dass sie doch keinen Bock haben, eine Familie zu ernähren. Da hat er sich aus dem Staub gemacht.«
»Bist du dir sicher?«
Nein, verdammt, bin ich nicht. Oder besser gesagt: will ich überhaupt nicht sein. Ich will natürlich, dass mein Vater ein Held ist. Aber ich bin auch nicht dumm genug zu glauben, dass es allein durch diesen Wunsch zur Wahrheit wird.
Sie zuckte mit den Schultern. »Was ist jetzt mit einer Strafarbeit? Dieser ganze Psychoquatsch – entschuldigen Sie – führt doch zu nichts. Ich bin nicht gestört. Ich habe nur getan, was das Richtige war. Und das war, diesen Jungen vor dem Ersticken zu retten. Oder wollen Sie mir sagen, dass das ein Fehler war?«
Frau Jansen saß immer noch in ihrer entspannten Haltung da und sah absolut zufrieden aus. Sie lächelte sogar ein wenig. Sie sah Rica sehr lange an, bevor sie antwortete.
»Ich bin mir sicher, dass du getan hast, was du für das Richtige gehalten hast – in diesem Moment.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Aber du bist auch in einem Alter, in dem du weißt, dass Gewalt keine Lösung ist. Und ich glaube nach wie vor, dass du Probleme hast. Auch wenn du aus den besten Absichten gehandelt hast, müssen wir etwas tun, Ricarda. Wir müssen dafür sorgen, dass du dich beim nächsten Mal gleich für den richtigen Weg entscheidest.« Ihr Lächeln war nun beinah schon ein Grinsen. »Es kann ja auch nicht in deinem Sinn sein, Strafarbeiten aufgebrummt zu bekommen.«
Rica starrte sie nur an und hütete sich davor, etwas zu entgegnen. Sie hatte keine Lust mehr darauf, dass diese Frau ihr irgendwelche Motive unterstellte.
»Ich glaube, für heute lasse ich dir die Geschichte mit der Schlägerei einmal durchgehen«, redete Frau Jansen weiter. »Aber wie gesagt – wir müssen sehr an deiner Haltung Menschen gegenüber arbeiten. Ich glaube, es wäre gut für dich, wenn du auch in Zukunft das ein oder andere Mal in mein Büro kommen könntest.«
»Das heißt, Sie halten mich für verrückt?« Die Frage war Rica rausgerutscht, bevor sie etwas dagegen unternehmen konnte. Doch Frau Jansen lächelte nur weiter.
»Man muss nicht verrückt sein, um mit einem Therapeuten zu reden, Ricarda. Du musst nicht alles glauben, was man sich so über uns erzählt.«
Warum erzählt man es dann? Rica stand auf. »Ich weiß nicht, was man sich erzählt. Ich weiß nur, dass eine Therapie auf Freiwilligkeit des Patienten beruht. Und ich habe nicht vor, mich in Behandlung zu begeben. Ich brauche keine Therapie. Und mit meinem Vater hat das nichts zu
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