Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Optimum 1

Optimum 1

Titel: Optimum 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V Bicker
Vom Netzwerk:
sie sich in einem Geisterhaus. Sie ließ ihren Blick über die Türschilder mit den Zimmernummern schweifen. Doch kurz bevor sie die Nummer 527 erreichte, schwang diese auf, und eine sehr verlegen aussehende Janina kam heraus. Immerhin konnte sie sich jetzt wieder allein auf den Beinen halten, aber sie starrte stur auf den Boden, kaute an ihrer Unterlippe herum und beeilte sich, an Rica vorbei in Richtung Treppe zu kommen.Rica wunderte sich, dass Frau Jansen jetzt schon mit ihr fertig war.
    Ob ich sie fragen soll, was Frau Jansen ihr aufgebrummt hat? Aber sie entschied sich dagegen. Janina sah schon niedergeschlagen genug aus. Allerdings auch nicht so, als hätte man sie gerade von der Schule geschmissen. Und das wäre das Mindeste gewesen, was Rica bei einer solchen Aktion erwartet hätte. Nun ja. Wenn Janina schon vom schlimmsten Ärger verschont geblieben war, dann sah es für sie selbst ja auch gar nicht so schlecht aus.
    Rasch legte sie die letzten Schritte bis zu der offenen Zimmertür zurück, hielt dort inne und klopfte vorsichtshalber gegen den Rahmen, um sich anzukündigen. Was sie von der Tür aus vom Zimmer sehen konnte, war ganz anders als der Flur. Helle, moderne, beinah klinisch anmutende Möbel, zwei exakt gestutzte Zimmerpflanzen auf einem weißen Fensterbrett, arrangiert wie in einem Stillleben, ein weißes Bücherregal, ein topmoderner Computer und sogar ein Medikamentenschrank, der mit einem dicken Vorhängeschloss gesichert war. Alles sah sauber, gepflegt und steril aus. Sollten Therapeuten sich nicht ein gemütliches Zimmer zulegen, in dem sich die Patienten wohlfühlen?
    »Komm rein, Ricarda!« Frau Jansen sah kurz von einem Ordner auf, den sie geöffnet vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte. Eine Seite, die aussah wie ein Fragebogen, war zuoberst abgeheftet, und Frau Jansen bearbeitete sie konzentriert mit einem Kugelschreiber. Zögernd trat Rica ins Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Dann blieb sie verlegen stehen, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte. Sie war noch nie bei einem Therapeuten gewesen. Natürlich wusste sie, dass die legendäre Couch genau das war – eine Legende. Aber trotzdem hatte sie etwas mehr Wohnzimmeratmosphäre erwartet. Das hier sah aus wie das Zimmer ihres alten Rektors, nur nicht so gemütlich-chaotisch. Die Luft roch nach etwas Süßlichem, vielleicht ein Raumspray oder so etwas, jedenfalls wurde Rica schlecht davon. Warum macht sie nicht einfach ein Fenster auf? Das würde die Luft deutlich verbessern.
    »Setz dich, bitte!« Frau Jansen schlug den Ordner zu und schob ihn ins Regal neben sich. Dann zog sie einen zweiten Ordner hervor, der nur sehr wenige Seiten enthielt. Sie öffnete ihn, und Rica erkannte ein Formular auf der Vorderseite, an dem ihr Passbild für den Schülerausweis angeheftet war. Meine Akte. Wie kommt die hierher? Sie schauderte leicht und ließ sich auf dem Sessel vor Frau Jansens Schreibtisch nieder. Es war ein weißer Ledersessel, der neu roch und unter ihr quietschte. Sie wagte nicht, sich zurückzulehnen, und blieb kerzengerade sitzen, den Blick fest auf die Schreibtischplatte gerichtet. Sie wartete, was nun passieren würde.
    Nichts, erst mal. Frau Jansen blätterte völlig vertieft in den wenigen Blättern, die der Ordner enthielt. Rica fragte sich, was darin stehen mochte. Vielleicht die Geschichte, wie sie ihre alte Schulturnhalle mit Graffiti beschmiert hatte? Oder vielleicht, dass sie einmal eine Woche die Schule geschwänzt hatte, um mit Freunden an die Ostsee zu fahren? Sie versuchte, sich durch Frau Jansens Schweigen nicht aus dem Konzept bringen zu lassen und weiter ganz ruhig und gelassen zu bleiben, aber das war nicht einfach. Warum runzelte die Therapeutin immer wieder die Stirn? Rica faltete die Hände in ihrem Schoß, starrte darauf und begann, die Flecken auf ihren Fingernägeln zu zählen. Solche Psychospielchen machten sie fertig. Warum hält sie mir nicht einfach eine Standpauke und gut?
    »Dein Name ist Ricarda Lentz.« Nicht dass sie ihr das nicht schon gestern gesagt hätte. Aber dennoch nickte Rica. Besser nicht widersprechen. »Und deine Mutter ist … «
    »Manuela Lentz.« Rica räusperte sich. »Sie wird hier Bio unterrichten.«
    »Ja, habe ich gelesen.« Immer noch hob Frau Jansen nicht den Blick von der Akte. »Sag mal, gerätst du oft in Schwierigkeiten mit anderen Schülern? Schlägst du dich häufig?«
    Was heißt häufig? , hätte Rica am liebsten erwidert. Nicht häufiger, als sie musste.

Weitere Kostenlose Bücher