Optimum - Kalte Spuren
aufraffen können, meine Leute mit den Fäusten zu verteidigen, oder so?
Rica seufzte. Sie wusste genau, wieso. Weil ihr all diese Menschen eine Scheißangst gemacht hatten, weil sie dort keine Minute länger hätte bleiben können, ohne zu ersticken. Weil so viele Menschen um sie herum gewesen waren, dass sie einfach in Panik geraten war. Weil du ein verdammter Feigling bist!
Rica presste die Lippen aufeinander. Zum dritten Mal blickte sie sich im Zimmer um. Wenn sie hier irgendwo eine Winterjacke und Winterstiefel finden konnte, vielleicht würde sie dann den Weg zurück zur Skihütte unbeschadet überstehen. Wenn sie erst einmal da war, würde sie die anderen befreien.
Und dann? Dann fliehen wir alle hierher und machen was? Rica kaute ärgerlich auf ihrer Unterlippe herum. Nein, das war keine Lösung. So sehr es ihr auch gegen den Strich gehen mochte, die anderen einfach dortzulassen, es war ihr ebenso klar, dass sie allein keine Chance hatte. Ich muss die Polizei rufen, dachte sie, aber wie? In dem Schneesturm schaffe ich es doch nie ins Dorf hinunter.
In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf die beiden Computer, die auf dem Tisch vor sich hin surrten.
Die Computer.
Warum hatten sie vorher nicht an die Computer gedacht? Klar, sie hatten die Dateien der Kameras abgerufen, aber hatten sie nicht die ganze Zeit davon geredet, dass sie die Polizei verständigen wollten? Warum zur Hölle hatten sie also nicht an die Computer gedacht?
Rica ging auf die beiden Rechner zu und tippte versuchsweise bei jedem einmal kurz auf die Tastatur. Die Bildschirme flammten auf und zeigten einen identischen Desktophintergrund. Eine sonnenüberflutete Wiese mit Mohnblumen gesprenkelt, die so gar nicht zu der Kälte und dem Schnee hier passen wollte. Rica hatte befürchtet, dass die Rechner passwortgesichert sein könnten, insbesondere nach der Aktion, die ihr Vater das letzte Mal hier abgezogen hatte. Aber offensichtlich fühlte sich der Besitzer des Unterschlupfs immer noch ziemlich sicher.
Rica zog sich einen Stuhl heran und ließ sich vor dem Desktoprechner nieder. Mit zittrigen Fingern bediente sie die Maus, ließ den Zeiger über den Bildschirm huschen und fand schließlich, was sie suchte: Der Rechner hatte tatsächlich eine Internetverbindung. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie das Browserfenster öffnete, und sie warf einen nervösen Blick in Richtung Tür. Wenn sie nur niemand störte …
Rasch tippte sie die Adresse für ihren E-Mail-Provider ein, und wartete ungeduldig darauf, dass die Seite geladen wurde. Es schien Ewigkeiten zu dauern. Endlich erschien das Logo in der linken oberen Ecke des Bildschirms, und Rica atmete erleichtert auf. Rasch begann sie, ihren Usernamen und das Passwort einzugeben.
»Was tust du hier ?«
Die Stimme war so laut, dass Rica zusammenzuckte. Sie drehte ihren Stuhl in Richtung Tür, und da stand er. Eingemummelt in eine dicke schwarze Skijacke und Schneehosen, die Mütze ein Stück aus der Stirn geschoben, stand der Mann aus dem Wald da, die Hände in die Hüften gestemmt. Er war jünger, als Rica bei ihrer ersten Begegnung geglaubt hatte, vielleicht Mitte dreißig. Sein hellbraunes Haar war in einem praktischen Militärschnitt frisiert, und seine Augen waren dunkel und durchdringend. Dieses Mal hatte er kein Messer in der Hand, aber Rica konnte nicht sicher sein, was sich alles unter seiner Jacke verbarg. Von seinem Gürtel baumelte ein Funkgerät, das aussah wie in alten Militärfilmen.
»Ich … ich …« Rica verließen die Worte. Ihre Hände begannen wieder, furchtbar zu zittern, und sie konnte spüren, wie sie sich mit einem Film aus kaltem Schweiß überzogen.
»Kommst da einfach so in mein Nest geflogen, kleines Vögelchen .« Die Stimme des Mannes hatte jetzt einen aufreizend kindlichen Tonfall angenommen. Er lachte. »Was sollen wir da wohl mit dir machen, hm ?« Er trat einen Schritt in den Raum hinein, und ließ die Tür hinter sich zufallen. Sie schlug mit einem Krachen ins Schloss, das Rica abermals zusammenzucken ließ.
Er ist kein Psychopath. Er tut nur so. Nathan war sich so sicher. Doch alles, was Rica im Moment wahrnehmen konnte, war das überlegene Grinsen auf dem Gesicht des Mannes und die langsame Bewegung, mit der er den Reißverschluss seiner Jacke aufzog.
»Dann werden wir wohl ein bisschen Spaß zusammen haben, nicht wahr, meine Kleine ?« , meinte der Mann und lachte. Rica starrte ihn an und fühlte sich wie ein Reh, das vom grellen Scheinwerferlicht
Weitere Kostenlose Bücher