Optimum - Kalte Spuren
letzten paar Stufen immer zwei auf einmal. »Frau Friebe ist verschwunden !« , rief sie, so laut sie konnte, den Gang entlang. »Der Psychopath hat sie geholt! Wir sind allein hier !«
Aufgeregte Schreie folgten Vanessas Ankündigung. Die Ordnung, die Torben mühsam aufgebaut hatte, brach von einem Moment auf den anderen zusammen, und alle schrien wieder durcheinander. Rica konnte Torbens Stimme hören, wie er versuchte, gegen die Unruhe anzureden, aber offensichtlich hörte ihm niemand zu.
»Ich will nach Hause !« , jammerte eine Mädchenstimme.
»Wir müssen uns bewaffnen « , kam von einem Jungen. Es klang nach Alex. Typisch. Der war immer wild darauf, mit seinen Muskeln anzugeben.
»Das hilft doch nichts. Er wird uns alle kriegen !« Ein weiterer Junge – einer von den Kleineren offensichtlich –, dessen Stimme vor Hysterie ganz hoch klang. Mehrere Schüler begannen zu weinen.
Rica verdrehte die Augen und schleppte sich die letzten Stufen hoch. Sie fühlte sich unendlich müde und wünschte sich nichts mehr, als zu Hause in ihrem Bett aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war.
Oben stieß sie auf eine aufgebrachte Menge. Jeder schien panisch nach einer Lösung zu suchen. Rica entdeckte nun doch Nathan am Rand der Gruppe, aber er schien sich überhaupt nicht einmischen zu wollen. Er stand mit unbewegter Miene da und beobachtete das Chaos unbeteiligt. Als er Rica sah, trat er einen Schritt auf sie zu und wollte sie offensichtlich beiseitenehmen, doch Torben war schneller. Er drängte sich durch die aufgebrachten Schüler und packte Rica am Arm.
»Ist das wahr? Frau Friebe ist verschwunden ?«
Rica nickte. Sie brachte kein Wort heraus.
»Warum bist du dann nicht gleich zu mir gekommen? Jetzt hat Vanessa hier Panik verbreitet, und ich kann sehen, wie ich das wieder in den Griff bekomme .« Er zog wütend die Augenbrauen zusammen und wandte sich von Rica ab, bevor sie etwas erwidern konnte. Sie wusste auch nicht, was sie ihm hätte antworten sollen. Vanessa war nicht in diese schaurige Puppe hineingelaufen, Vanessa hatte nicht solche Angst ausgestanden wie Rica. War es ein Wunder, dass sie wie gelähmt gewesen war?
Vielleicht schon, dachte sie. Manchmal kam sie sich gegenüber den Daniel-Nathans-Schülern dermaßen dumm vor, dass sie sich überhaupt nichts mehr zutraute.
Eine Hand packte sie am Arm, und Rica zuckte zusammen. Nathan zog sie zu sich. »Was war noch los ?« , wollte er wissen. »Du siehst schrecklich aus .«
»Na danke « , erwiderte Rica beinahe automatisch. »Gleichfalls .«
»Ehrlich: Was war los ?«
Rica erzählte im Flüsterton von der unheimlichen Puppe und, da sie gerade dabei war, von der Botschaft im Duschraum.
»Ich bin mir langsam nicht mehr so sicher « , meinte sie schließlich. »Diese Puppe und dass Frau Friebe so einfach verschwunden ist … Bist du dir sicher, dass der Kerl dort oben im Unterstand kein Psychopath ist ?«
Nathan machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich war mir ziemlich sicher « , gab er zurück. »Aber du hast schon recht, das alles hört sich schon sehr bedrohlich an .« Er runzelte die Stirn. »Es passt einfach nicht zusammen .«
»Erklär das denen hier !« , erwiderte Rica und machte eine weitausholende Geste, die alle Schüler um sie herum einschloss. Noch immer war mindestens die Hälfte von ihnen ziemlich aufgelöst, andere verschwanden gerade in ihren Zimmern, vielleicht um sich anzuziehen, vielleicht auch, um der Aufforderung nachzukommen, sich zu bewaffnen. Rica traute ihnen im Moment alles zu.
»Wir sollten auf jeden Fall auf alles gefasst sein « , meinte Nathan.
In diesem Moment brach der Streit los. »Lass mich los, du dumme Zicke !« Eine Mädchenstimme kreischte schrill.
»Du warst doch als Letzte in der Dusche !« , schimpfte ein anderes Mädchen. »Hast du das Zeug da an den Spiegel geschrieben ?«
»Was ist denn nun schon wieder los ?« , murmelte Rica.
»Ich nehme an, alle Nerven liegen ziemlich blank im Moment « , gab Nathan zurück. »Es war abzusehen, dass sie einander an die Kehle gehen würden .«
»Für dich vielleicht .« Rica versuchte, sich durch die Menge zu drängen, zu der Stelle, woher die Stimmen kamen. Doch die Schüler standen dicht an dicht und bildeten einen festen Ring um die Streitenden.
»Torben! Sie hat bestimmt was mit diesem Psychopathen !« , rief das zweite Mädchen wieder. Jetzt erst erkannte Rica Vanessas Stimme. »Sie war in der Dusche, kurz bevor das alles
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