Optimum - Purpurnes Wasser (German Edition)
gleich darauf wieder auf die Füße, bereit, es mit einem Kampf zu versuchen.
Es war nicht mehr nötig.
Michelle, getrieben von ihrem eigenen Schwung, war gegen die Brüstung geprallt und hatte dabei das Messer verloren. Noch während Rica zusah, kämpfte das jüngere Mädchen um ihr Gleichgewicht. Rica sprang vorwärts, um Michelle am Ärmel zu packen, aber es war zu spät. Kopfüber kippte Michelle über das Geländer, und das Nächste, was Rica vernahm, war ein schrecklicher, dumpfer Aufprall.
Dann Stille.
Schreckliche, lange Stille.
Rica stand wie gelähmt da. Es fühlte sich an, als seien ihre Füße mit dem Boden verwachsen, als hingen an ihren Armen Bleigewichte.
Stille.
Stille.
Ich habe sie umgebracht. Der Gedanke kreiste durch Ricas Kopf, als suche er einen Ausweg. Ich habe sie umgebracht.
Stille.
Dann ein leises Stöhnen. Fast zu leise, um es wahrzunehmen, aber in der absoluten Ruhe trotzdem kaum zu überhören. Blitzartig kehrte Leben in Rica zurück. Wie von einer Feder geschnellt rannte sie zur Wendeltreppe und stürzte hinunter. Auf den Fliesen lag ein kleiner, blutbeschmierter Körper, erschreckend ruhig, aber dennoch ging ein leises Stöhnen von ihr aus.
»Michelle!« Rica rutschte in der Blutlache am Fuß der Treppe aus, schlitterte ein paar Schritte über die Fliesen und fiel neben Michelle auf die Knie. Sie ignorierte den dumpfen Schmerz, der durch ihre Kniescheiben jagte, und versuchte, mit fliegenden Fingern einen Puls zu finden. Michelle hob eine Hand und schob schwach, aber bestimmt Ricas Finger von sich.
»Nordsee«, murmelte sie. »Gantener Koog. Schleswig-Holstein.«
»Was?« Rica wollte wieder nach ihr greifen, aber Michelle schob ihre Hand erneut weg. »Das Institut«, murmelte sie. »Wenn du Rache nehmen willst …« Ihre Hand sank herab und blieb still liegen, doch Rica konnte sehen, wie sich Michelles Brust hob und senkte. Sie lebte noch.
Rica holte das Handy hervor und wählte den Notruf.
Kapitel fünfzehn
Insider
Eliza konnte hören, wie draußen auf den Gängen Menschen hin und her gingen. Ab und zu schnappte sie ein paar halb geflüsterte Worte auf. Irgendetwas war passiert. Sie war sich nicht sicher, was, doch es schien nichts Gutes für das Institut zu bedeuten.
Als das Licht erloschen war, hatte sie sich im Nachthemd aufs Bett gesetzt, aber einschlafen konnte und wollte sie nicht. Sie wartete. Herr Marten hatte ihr versprochen, sie noch mal abholen zu lassen und sie mit anderen »Widerständlern«, wie er es nannte, in Kontakt zu bringen. Zwar hatte er Eliza keinen konkreten Termin genannt, aber irgendwann musste ja etwas passieren. Und sie war einfach noch nicht müde.
Die Tür schwang auf. Eliza wäre am liebsten aufgesprungen, hielt sich jedoch im letzten Moment davon ab. Was, wenn es jetzt nicht die Krankenschwester war, die sie abholen kam? Dann würde sie sich durch ihren Enthusiasmus nachher noch verraten.
Also blieb sie ruhig sitzen und wandte nur den Kopf zur Tür. Im Türrahmen stand ein blonder Junge, geisterhaft in seinem hellen Pyjama.
»Bist du wach?« Felix’ Stimme klang heiser und ängstlich.
»Komm rein!«, erwiderte Eliza. »Mach die Tür zu!«
Felix schob sich ins Zimmer und drückte leise die Tür ins Schloss. Dann kam er zu ihrem Bett herüber. »Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe«, flüsterte er.
»Hast du nicht. Ich konnte sowieso nicht schlafen.« Eliza konnte sich gerade noch davon abhalten, ihm von Marten zu erzählen. Sie wusste nicht, ob er eingeweiht war. »Was ist los?« Sie zögerte kurz. »Ich dachte, du wolltest nicht mehr mit mir sprechen.«
Felix lächelte. Plötzlich sah er seiner Schwester Saskia sehr ähnlich, sie hatte das gleiche etwas bittere Lächeln gezeigt. »Entschuldige, dass ich so mit dir geredet habe«, meinte er. »Ich habe Angst. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst, aber diese Jahre hier im Institut können einen schon ganz schön fertig machen.« Er sah sich um. »Kann ich mich setzen?«
Eliza runzelte die Stirn, dann rutschte sie ein Stück zur Seite, damit Felix sich neben sie aufs Bett setzen konnte. Er lächelte wieder, dieses Mal dankbar, und nahm auf der Bettkante Platz.
»Warum hast du deine Meinung geändert?«, wollte sie wissen. Sie musterte Felix scharf. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass mit ihm irgendwas nicht in Ordnung war, aber alles, was sie sah, war ein frierender, ängstlicher Junge, der so viel jünger wirkte als siebzehn Jahre. Es fehlte nicht viel, und Eliza
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