Optimum - Purpurnes Wasser (German Edition)
wieder einigermaßen aufzutauen. Sie hatte ein Abteil für sich allein, niemand schien bei diesem Wetter um diese Zeit ans Meer fahren zu wollen.
Rica starrte aus dem Fenster. Sie vermisste ihre Mutter. Sie vermisste Eliza. Und am allermeisten vermisste sie Robin. Wie es ihm wohl ging? Wenn sie daran dachte, wie sie ihn zurückgelassen hatte, traten ihr die Tränen in die Augen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, das wusste sie, aber trotzdem gab es da etwas in ihr, das furchtbar schmerzte, wenn sie sich Robins Gesicht vorstellte. Sie hätte alles dafür gegeben, jetzt bei ihm zu sein.
»Hey.«
Rica schniefte, wischte sich die Tränen ab und drehte sich zur Abteiltür um, die sich lautlos geöffnet hatte. In der Tür stand ein Mädchen in ihrem Alter, die langen Haare hochgesteckt, in Jeans und einer dicken Jacke. Sie schleifte einen Rucksack hinter sich her.
»Bist du okay?«, erkundigte sich das Mädchen.
Rica schniefte wieder, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und zwang sich dann zu einem Nicken.
»Jungs?«, wollte das Mädchen wissen und stemmte ihren Rucksack ins Gepäckfach.
»So ähnlich«, murmelte Rica und wandte sich wieder dem Fenster zu. Sie hatte keine Lust auf eine Unterhaltung. Und sie hatte keine Lust auf Gesellschaft.
»Der Kerl hat dich gar nicht verdient«, meinte das Mädchen.
Rica sah aus den Augenwinkeln, wie sie eine Hand hob, um sie Rica auf den Arm zu legen. Aber glücklicherweise ließ sie sie gleich darauf wieder sinken. Offensichtlich wirkte Rica auf sie dann doch zu abweisend.
Rica zuckte mit den Schultern und blickte weiter aus dem Fenster. Wenn schon, dann habe ich den Kerl nicht verdient, dachte sie. Ich bringe doch alle nur in Schwierigkeiten. Ich sollte überhaupt keinen Freund haben. Mein Freund zu sein, ist gefährlich. Mein Feind zu sein auch. Denn Frau Jansen ist auch tot. Ich scheine allen nur Unglück zu bringen.
Sie wagte einen raschen Seitenblick zu dem Mädchen, das jetzt schwieg. Es hatte ein iPhone aus der Tasche gezogen und tippte auf dem Touchscreen herum, scheinbar überhaupt nicht mehr an Rica interessiert.
Gut so. Ist besser für dich.
Rica wandte sich wieder dem Fenster zu, doch gleich darauf fing das Mädchen zu sprechen an. »Hey, bist du das?«
Rica blinzelte. Sie verstand zuerst nicht, was die andere von ihr wollte, bis diese ihr das iPhone vor die Nase hielt. Die Facebook-Seite war geöffnet, und von dem Eintrag, den das Mädchen aufgerufen hatte, prangte Rica ihr eigenes Gesicht entgegen. Vermisst , stand darunter, und dann kam das übliche Blabla, wann sie das letzte Mal gesehen worden war und so weiter. Und eine Telefonnummer, die man anrufen sollte, wenn man Rica erkannte. Rica biss sich auf die Unterlippe.
»Die sieht doch gar nicht aus wie ich«, murmelte sie und zuckte wieder mit den Schultern, als interessiere es sie überhaupt nicht.
Aber das Mädchen verengte seine Augen und sah wieder auf das Bild, dann zurück zu Rica. »Bist du abgehauen, oder was?« Ihre Stimme klang jetzt ein wenig scharf. »Findest du das gut?«
»Ich bin nicht abgehauen«, protestierte Rica.
»Wohin bist du unterwegs?«, kam sofort die nächste Frage.
»Zu meinem Onkel. In Cuxhaven«, nannte Rica das Erste, was ihr in den Sinn kam. Sie musste in Cuxhaven umsteigen, wenn sie sich recht erinnerte.
»Und wo wohnt der da genau?«
»Was weiß ich denn? Ich war da noch nie. Er wird mich am Bahnhof abholen.« Rica schnaubte. »Für wen hältst du dich? Die spanische Inquisition?« Sie nahm dem Mädchen das iPhone aus der Hand und tat so, als ob sie das Foto noch mal genau studierte. »Das bin nicht ich. Das sieht doch ein Blinder!«, meinte sie und gab das Telefon dann zurück. Sie hoffte einfach, dass sich ihre Lüge durch ihre Dreistigkeit allein tragen würde.
Das Mädchen starrte sie an. Wieder sah sie auf das Foto, dann zu Rica, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie ihren Augen glauben konnte.
»Na schön«, meinte sie schließlich. »Sorry.«
Rica erwiderte nichts. Sie sah aus dem Fenster. Draußen zog eine trübgraue Baumreihe an ihnen vorbei, und Rica tat so, als würde sie sich brennend dafür interessieren.
»Rauchst du?«, wollte das Mädchen wissen. Rica runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, ohne das Mädchen anzusehen.
»Ich gehe jedenfalls aufs Klo und rauche eine. Bist du sicher, dass du keine willst?« Die Stimme des Mädchens hatte jetzt einen freundlichen Ton angenommen, aber Rica ging davon aus, dass sie
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