Optimum - Purpurnes Wasser (German Edition)
hätte nur gedacht, dass hier vielleicht eine Art Empfangskomitee auf uns warten würde«, murmelte sie halblaut. »Ich meine, nach der Geschichte in der Skihütte. Aber das scheint hier niemanden zu interessieren.«
»Sei doch froh!«, flüsterte er zurück.
»Bin ich ja. Seltsam ist es trotzdem.«
Robin legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie ein Stück zu sich heran. »Du bist nur so nervös, weil du dir den ganzen Urlaub über Gedanken gemacht hast. Vermutlich hast du geglaubt, die denken auch an nichts anderes. Aber vielleicht ist das gar nicht so. Vielleicht sind sie gar nicht so scharf darauf, dich zum Schweigen zu bringen.«
Vielleicht bin ich auch einfach nicht wichtig genug, um ernstgenommen zu werden, dachte Rica mit einem lächerlichen Anflug von Bitterkeit. Robin hatte recht: Sie sollte froh sein, dass sich keiner um sie kümmerte.
»Dafür finde ich es aber schon ziemlich merkwürdig, dass sie zweimal versucht haben, mich auszuschalten«, grummelte sie. »Erst Andrea und dann dieser Patrick.«
Robin zuckte mit den Schultern. »Andrea war ein bisschen durchgeknallt«, gab er zurück. »Und der andere Kerl war ein Psychopath.«
Nein, er hat nur so getan. Rica hütete sich davor, den Gedanken laut auszusprechen. Manchmal kam es ihr so vor, als würde Robin am liebsten den ganzen Skiurlaub, und was dabei passiert war, vergessen. Kein Wunder, immerhin war sein kleiner Bruder für einen Großteil der unheimlichen Vorfälle verantwortlich gewesen. Und so wütend Robin auch auf ihn war, offensichtlich wog die Tatsache, dass Simon sein Bruder war, immer noch schwerer.
Rica wusste allerdings auch, dass es sinnlos war, ihn darauf anzusprechen. Am besten ging man dem Thema weitläufig aus dem Weg, bis er bereit war, darüber zu reden. Rica wollte ihn nicht hetzen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sehr er unter der Vorstellung leiden musste, dass sein kleiner Bruder beinah für ihren Tod verantwortlich gewesen wäre. Sie musste ihm Zeit geben, das alles zu verarbeiten. Und überhaupt: Vielleicht war es ja auch besser, sich eine Scheibe von seiner Gelassenheit abzuschneiden. So drückte sie nur kurz ihr Gesicht an seine Schulter und atmete seinen warmen Geruch ein.
»Ich mache mich dann mal auf den Weg!«, zwitscherte Robins Mutter direkt neben Ricas Ohr, und Rica zuckte zusammen. Robin löste seine Umarmung und schenkte seiner Mutter einen ärgerlichen Blick.
»Verschwinde schon«, murmelte er, allerdings so leise, dass nur Rica es hören konnte. Sie musste grinsen. Mit voller Absicht schlang sie noch einmal die Arme um Robins Hals und küsste ihn direkt auf den Mund, noch bevor sich seine Mutter ganz abgewendet hatte. Den ärgerlichen Blick hätte sie gern für die Ewigkeit festgehalten.
»Ich mache mich mal auf zu meiner Ma«, sagte sie und löste sich widerstrebend von Robin.
Auf einmal schien der Urlaub, der ihr eben noch so verpatzt vorgekommen war, die letzte Zeit des Friedens gewesen zu sein, eine Atempause vor dem großen Sturm. Und ich habe ihn damit verbracht, mich über Frau Wittich aufzuregen, dachte Rica ärgerlich und drückte Robin zum dritten Mal so fest, dass ihm fast die Luft wegblieb. Dann wandte sie sich ab, schnappte sich ihren Rucksack und rannte zu dem Weg, der nach Hause führte. »Ich hole den restlichen Kram nachher ab«, rief sie über ihre Schulter zurück. »Lass ihn einfach in der Einganghalle stehen. Wird schon nichts wegkommen.«
An der Mündung des Fußpfades drehte sie sich noch mal um. Robin stand immer noch da und sah ihr hinterher. Für einen Augenblick hatte sie das starke Bedürfnis, wieder zu ihm zu laufen und sich in seine Arme zu werfen. Wieder war da das Gefühl, dass ihre ruhigen Stunden gezählt waren. Stattdessen winkte sie nur noch einmal, und wandte sich endgültig ab.
Der Pfad verlief im Schatten einer Hecke. Da die Sonne bereits unterging, warfen die Zweige unruhige Schatten auf den Kies vor Ricas Füßen. An den Ästen begann sich gerade das erste Grün des Jahres zu zeigen, und ein frischer, süßer Duft hing in der Luft. Ein Stück entfernt zwitscherten ein paar Meisen in den Zweigen, aber sonst war alles ruhig. Menschenleer. Als seien die Schüler der Daniel-Nathans-Akademie von einem Tag auf den anderen alle verschwunden. Ricas Herz schlug unwillkürlich schneller, und sie warf immer wieder einen Blick über ihre Schulter. Dieser dämliche Skiurlaub hatte sie mit einer gründlichen Paranoia zurückgelassen. Jeden Moment rechnete sie
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