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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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jener andere Teil von Hannes, der so redete – und Skythis’ Blick verriet, dass er seinem Hilfsschreiber nicht glaubte.
    »Dein eigener Wille ist schon viel zu sehr geschwächt«, stieß er hervor. »Die Dämonen beherrschen dich mit jeder Stunde noch mehr. Das machen wir uns zunutze – aber zu deinem Besten musst du in Fesseln bleiben.« Er erhob sich und zog Hannes am Strick mit sich hoch.
    Kaum war Hannes wieder auf den Beinen, da begann er aufs Neue zu rennen. Er senkte seine Lider und spürte, wie sich seine Augen nach innen verdrehten. Anstelle seiner wirklichen Umgebung mit ihrem ermüdenden Einerlei aus Bäumen, Buschwerk, Unterholz erblickte er einen duftenden Blütenkelch, in den er sich hineinschmiegen wollte, und gleich darauf einen schimmernden Kristallkelch, den er austrinken wollte, und nur einen Wimpernschlag danach eine wunderschöne junge Frau, die er küssen und umarmen wollte, und ein Teil von ihm schrie, dass es dämonische Vorspiegelungen aus dem Satansbuch seien, doch dem anderen Teil von ihm war das vollkommen gleich. Er würde sterben vor Sehnsucht und Begierde, wenn er sich all dieser Köstlichkeiten nicht endlich bemächtigen könnte. Doch sie schwebten immer sieben Schritte vor ihm, sodass er nie nah genug an sie herankam, wie sehr er auch rannte und den keuchenden Unterzensor mit sich riss.
    Er bekam kaum noch mit, wie Skythis ihn am Strick hin- und herzerrte, wie er gleichwohl über Steinbrocken stolperte, gegen Baumstämme stieß, durch Hecken brach, einmal sogar eine Schlucht hinabstürzte und für kurze Zeit freikam. Ehe Hannes jedoch halbwegs zu Sinnen gelangt war, hatte der Unterzensor ihn wieder eingeholt und beim Strick gepackt und schimpfte atemlos auf ihn ein.
    Doch je länger die wilde Jagd dauerte, desto seltener schalt ihn Skythis, desto williger kam der Bücherjäger hinter ihm hergekeucht. Anscheinend begann der Unterzensor so wie Hannes selbst zu spüren, dass sie dem kleinen Bücherteufel Schritt um Schritt näher kamen. Ihr Opfer floh in wildem Zickzack durch das Dickicht, sie aber folgten ihm auf geradem Weg, über alle Hindernisse hinweg – auch wenn Dornen ihnen die Haut zerstachen, Äste ihnen in die Gesichter peitschten, Disteln ihre Beine zerfleischten. Beinahe wäre Hannes sogar in einem Sumpffeld versunken – doch da riss ihn der Unterzensor im letzten Augenblick so wuchtig zurück, dass Hannes gegen ihn prallte und sie diesmal beide rücklings zu Boden gingen. Heftig atmend lagen sie übereinander, und der Unterzensor umklammerte Hannes zusätzlich mit seinen Armen und keuchte ihm ins Ohr: »Sachte jetzt, Johannes – ich rieche die Beute schon.«
    Sie rappelten sich auf, und als Hannes gleich wieder losrennen wollte, schlang ihm Skythis von hinten einen Arm um den Hals. »Sachte, sag ich«, stieß er hervor, »oder willst du den Hasen aufs Neue verscheuchen?«
    Hannes schüttelte den Kopf. Sobald er nicht mehr rennen durfte, bekam jener andere Teil von ihm wieder die Oberhand. Nein, er wollte den Hasen nicht verscheuchen, er wollte ihn nicht einmal mehr jagen. Und schon gar nicht wollte er in dem Teufelsbuch lesen, ja er wollte es nicht einmal mehr finden – aus Angst, dass dann sofort wieder jener andere Hannes in ihm lebendig würde. Derjenige, der ihm das alles hier eingebrockt hatte – der damals das dämonische Schriftwerk heimlich in seine Dachkammermitgenommen, darin geblättert, möglicherweise auch da schon in dem Teufelsbuch gelesen hatte, behext von den Stimmen und Flammen, die daraus hervorgezischelt und -gezüngelt kamen.
    »Herr Unterzensor, ich bitte Euch, bindet mich los«, sagte er mit kläglicher Stimme. »Seht mich nur an, die Dämonen sind von mir gewichen. Ich schwöre bei meiner Seligkeit, dass ich Euch nicht davonlaufen werde.« Er zog ein wenig die Nase hoch, denn von der Kehle her stieg etwas brennend Heißes in ihm auf. Warum nur musste er auf einmal daran denken, wie er von zu Hause weggegangen war? Wie seine Mutter damals die Hände vors Gesicht geschlagen hatte, als er dem Vater entgegengeschleudert hatte: »Enterbt meine Brüder – sie sind Euer Besitztum und Eure Liebe nicht wert! Enterbt sie oder ich gehe für immer fort von Euch.«
    Ein heiseres Keuchen riss ihn aus seinen Gedanken. »Was ist mit dir, Johannes? Vergießt du Tränen?«
    Die Erinnerungsbilder zerfielen. Stumm schüttelte Hannes den Kopf. Er hatte sich damals geschworen, dass er niemals mit Reue oder auch nur mit Rührseligkeit an jene Szenen zurückdenken

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