Opus 01 - Das verbotene Buch
Anblick. Was er eben für ein L gehalten hatte, erinnerte ihn nun an eine stilisierte Hand mit im rechten Winkel gespreiztem Zeigefinger und Daumen. In dem vermeintlichen U erkannte er diesmal einen kampfbereit erhobenen Schild und in dem angeblichen X den Krallenabdruck eines Raubvogels.
Laurenz lehnte sich nach rechts und tauchte seine Hand ins Wasser. Obwohl an diesem Himmel keine Sonne brannte, war ihm mit einem Mal heiß geworden. Das Wasser fühlte sich köstlich kühl an, und es war so klar, dass man bis zum Grund hinabsehen konnte. Fische glitten über Sand und Kieseln dahin. Laurenz schöpfte ein wenig Flusswasser in seine Handmulde, doch als er sie zu seinem Mund führen wollte, brach ihm erst recht der Schweiß aus. Was er da in seine Hand gelöffelt hatte, war ein schillerndes Geschliere, das unablässig Farben und Form zu wechseln schien. Er starrte in seine Handmulde und erblickte ein liebreizendes Mädchenlächeln, ein blitzendes Schwert, außerdem wieder jenes U und X – dann zerrannen ihm die letzten bunten Tropfen zwischen den Fingern und er sah nur noch seine gewölbte Hand, die sich heiß und wund anfühlte, als hätte er glühende Kohlestücke aus dem Strom geschöpft.
Befremdet schaute Laurenz sich um. Die meisten anderen Reisenden sahen unverändert mit bezaubertem Lächeln zu den Feldern, die an den Ufern vorüberzogen. Zu seiner Linken saß eine umfangreiche Familie, Kinder jeden Alters, Vater und Mutter sowie ein verhutzeltes Greisenpaar, und sie alle schauten in stillem Ernst auf die vorbeigleitende Landschaft hinaus. Er wandte sich um und prallte vor dem zerfurchten Gesicht eines alten Weibes zurück. So dicht hatte sie hinterihm gehockt, dass ihr knochiges Kinn sich fast in seine Schulter spießte.
Laurenz hielt ihr seine Hand hin. »Das Wasser …«, begann er, doch gleich schon fiel sie ihm zeternd ins Wort.
»Aus der Hand lesen – das macht hier jeder selbst!« Ihr Gekeife tat ihm in den Ohren weh.
Er schöpfte noch einmal Wasser in seine Hand und hielt sie der Alten neuerlich hin. »Lies du es für mich.« Doch sie stieß seine Hand weg und sah mit meckerndem Lachen zu, wie ihm wieder alles zwischen den Fingern zertropfte – ein zinnengeschmückter Turm in erdigem Braun, ein funkelnd schwarzes Pferd und abermals jenes X und U, die genauso ein Krallenabdruck und ein erhobener Schild sein konnten oder auch ganz etwas anderes, eine Zauberformel.
Laurenz sprang auf und ging ruhelos auf dem Floß umher. Bei der Alten mochte er nicht länger sitzen, aber es drängte ihn, sich mit irgendwem über die geheimnisvolle Welt zu besprechen, in die er geraten war. Doch niemand wollte sich in ein Gespräch ziehen lassen – die Reisenden schauten allesamt gebannt auf die Felder hinaus. Nur der Flößer nickte ihm aufmunternd zu, aber mit ihm wollte Laurenz möglichst kein Wort mehr wechseln.
Die Strömung war unterdessen immer stärker geworden, auf den Wellen schaukelnd schoss ihr Floß nun dahin. Laurenz suchte sich einen neuen Sitzplatz, gleich weit von der Alten und dem Flößer entfernt. Kleinere Boote jagten in Gischt gehüllt an ihnen vorüber, plumpe Kähne wurden gegen die Ufer abgedrängt und mussten die schnelleren Gefährte vorbeiziehen lassen. Unmittelbar vor ihnen war nun der Nachen mit dem weißen Pferd, das in ein Netzmuster aus schwarzen Linien wie versponnen schien. Und auf einmal begann der Flößer, seinen Stecken wie wild ins Flussbett zu stoßen, wobei er atemlos ausrief: »Das bringt Glück – das bringt Glück!«
Schließlich stampfte und schlingerte ihr Floß tatsächlich an dem Nachen vorbei. Reglos stand das Tier in seinem schaukelnden Kahn, der steuerlos dahinzutreiben schien. Doch als Laurenz das edle Pferd mit dem schimmernd weißen Fell und dem feinen Linienmuster im Profil betrachtete, da wurde ihm mit einem Mal klar, dass es seinen Nachen allein mit der Kraft seines Willens lenkte.
Die weitere Fahrt verbrachte Laurentius Answer tief in Gedanken. Er bekam kaum mit, wie sie in einen kleinen Hafen einfuhren und der größte Teil der Reisenden von Bord ging. Wie der Flößer sein Gefährt auf den Strom zurücklenkte und sie nach weiteren Stunden nochmals an einem Steg anlegten. Hier verließen auch die meisten übrigen Passagiere das Floß – außer Laurentius blieb nur jene Alte, die meckernd über ihn gelacht hatte, an ihrem Platz hocken.
Wieder glitten sie zwischen Feldern dahin, auf denen jene Sträucher blühten, von Männern und Frauen mit dem
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